Bei Columbia/Legacy ist dieser Tage mit Miles at the Fillmore eine wunderbare Edition der 1970 gespielten Konzerte des legendären Miles Davis in Bill Grahams Club Fillmore East erschienen. Zum ersten Mal sind auf vier CDs die Songs in voller Länge zu hören, die der Trompeter vom 17. – 20. Juni im New Yorker Musiktheater präsentierte.
Beginn einer neuen Ära: Funk
Das Jahr 1970 markierte für Miles Davis eine Zeit des Umbruchs. Nach seinem Auftritt beim Woodstock Festival 1969, welches Davis’ Hinwendung zum Rock dokumentierte, hatte er im selben Jahr Bitches Brew aufgenommen, welches 1970 erschien und sein für lange Zeit erfolgreichstes Album werden sollte. Neben einer Goldenen Schallplatte und zahlreichen neuen Hörern, die Davis durch seine Hinwendung zu Fusion und Formen des Rock erschloss, brachte ihm jedoch die neue Ausrichtung nicht nur Freude ein. Ein Teil seiner alten Fans zeigte sich enttäuscht und trauerte den Zeiten von Kind of Blue nach, doch nach der Abkehr vom Bebop und der Hinwendung zum Modal Jazz war es für den ruhelosen Innovator Miles Davis an der Zeit, zu neuen Horizonten aufzubrechen.
Davis spielte als Vorband der Steve Miller Band oder von Santana und war einer der meist beachteten Protagonisten der historisch einmaligen Durchmischung der Rockmusik mit Jazz-Elementen. Nach dem Ende der Psychedelic-Ära begann die Zeit der Antikriegsbewegung, des Black Power-Movements und damit einhergehend die große Blütezeit des Funk, der für den Jazz von Miles Davis in den kommenden Jahren bestimmend blieb.
Miles at the Fillmore
Im Sommer 1970 spielte Davis einige Abende in Bill Grahams legendärem New Yorker Musiktheater als Vorband von Laura Nyro. Im Oktober desselben Jahres erschien das Doppel-Album Miles Davis at Fillmore auf LP, wofür die Aufnahmen der Sessions zusammengeschnitten wurden. Die neue Edition Miles Davis 1970: The Bootleg Series Vol. 3 schließt nun diese Lücke und präsentiert mit den drei Bonus-Tracks aus dem Fillmore West, in dem Ableger in San Francisco hatte Miles Davis eine Woche zuvor mit Grateful Dead und Stone The Crow gespielt, insgesamt weit über zwei Stunden bisher nicht veröffentlichte Musik des großen Jazz-Trompeters.
Das Set ist sehr ansprechend gestaltet, edel verarbeitet und enthält neben vier CD’s ein Faksimile von Magazin- und Zeitungsartikeln über Miles Davis aus dem Sommer 1970, sowie ein 36-seitiges Booklet, das mit vielen Fotos aufwartet und die musikalische Experimentierlust Davis’ vor dem Hintergrund seiner Zeit beschreibt. Miles at the Fillmore zeigt den Künstler mit aller Innovationsfreude am Beginn einer persönlich neuen Ära, die noch nicht endgültig Gestalt angenommen hat. Auf den New Yorker Aufnahmen hört man Davis’ Trompetenspiel noch unplugged, was in den kommenden Jahren nicht mehr der Fall war. Und auch den bravourösen Chick Corea, der in der Miles Davis-Band Herbie Hancock 1968 ersetzt hatte, hören wir vor seinem Abschied Ende 1970 noch am E-Piano. Das Jahr 1970 war für Miles Davis Höhe- und Wendepunkt zugleich. Endlich kann man diese aufregende Zeit, – das Ende der Sechziger Jahre, die Politisierung der Kunst und das Aufkommen des Funk – die im legendären Auftritt im Fillmore verdichtet spürbar ist, in voller Länge wieder nacherleben. Mit der Herausgabe dieser Edition ist auch dem Willen des Künstlers genüge getan: Gegenüber dem Rockmagazin Zygote äußerte sich Miles Davis 1970 in einem Interview absolut begeistert über die Konzertmitschnitte und betonte den Wunsch, dass „jedes einzelne Set und jede einzelne gespielte Note der Öffentlichkeit verfügbar gemacht werden sollen“.