Liebe Leser,
wir erleben die Renaissance einer nicht ganz unumstrittenen Tugend. Beispiele gab es in letzter Zeit zuhauf: So konnte die unterbelichtete Lichtgestalt „Kaiser“ Franz Beckenbauer auf seinem Spaziergang über die Sklavenplantagen der FIFA vulgo die WM-Baustellen in Katar bei bestem Mutwillen partout keine Zwangsarbeiter erblicken, „die laufen da alle frei herum“.
Zwar nicht direkt den Bereich Fußball, so doch aber die ganz normale Wirtschaftskriminalität streift der grundsympathische Hartmut, der diesen Vornamen ganz zurecht trägt, Mehdorn. Als Geschäftsführer des fiktiven Flughafens Berlin-Brandenburg begründet der profilneurotische Brutalo aus unschuldiger Überzeugung dessen verhinderte Eröffnung mit zaghaften Politikern, die zudem noch in völlig unangemessener Art auch Anwohnerinitiativen gegen den Fluglärm ernst nehmen wollen. „In einer Diktatur lassen sich solche Großprojekte viel einfacher realisieren“, mahnt der Kapitalist und glühende Fan der chinesischen KP in Summe lupenreine Technokrat. Das wird man wohl noch sagen dürfen, zumal wo es ja stimmt.
Eben. Die Rede ist von Ignoranz. Im Wortlaut bedeutet das lateinische „ignarus“ schlicht „unwissend“. Damit ist nichts darüber gesagt, ob es sich um ein eventuell willentliches Unwissen handelt. Allzumal wenn diese Haltung bei Zeitgenossen anzutreffen ist, die es besser wissen könnten, wo nicht sollten. Doch mit dem Wissen wachsen womöglich auch die Skrupel.
Meinungsstark: Sibylle L.
Den gefiederten Sänger am Himmelszelt oder wer es weniger poetisch verquast mag: Vogel hat Büchner-Preisträgerin Sibylle Lewitscharoff abgeschossen, die in der Reihe der Dresdner Reden ihren sauren Hirnkleister zum Thema „Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod“ aus Elfenbeinturmhöhe auf das Auditorium hinabtropfen ließ. Nun mag sich der geneigte Leser fragen, was die Dame zur Sprecherin zu Themen wie Reproduktionsmedizin qualifiziert, mithin ob sich Lewitscharoff „wissend“ zeigte. Antwort: Der gewiss traumatische Suizid des als Gynäkologen tätigen Vaters und: Nein.
Doch Unwissen schützt vor Meinung nicht. Und im Falle von Frau S. noch nicht mal vor was für einer bis dorthinaus. Hätte man gewusst, wie sehr Sibylle, in der antiken Mythologie bekanntlich die Prophetin, die ihre Orakelsprüche über Zukünftiges ungefragt in die Gegend bläst, unter der Praxis Intrauteriner Insemination und In-Vitro-Fertilisation samt Präimplantationsdiagnostik fast körperlich leidet, womöglich hätte man eine weniger apokalyptische Diskursliese eingeladen.
„Das gegenwärtige Fortpflanzungsgemurkse erscheint [der Lewitscharoffs Sibylle nämlich] derart widerwärtig, dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen Wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinen Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas.“
Wow. Da mag man nur hoffen, dass diejenigen Eltern, denen der Kinderwunsch auf natürlichem Wege nicht erfüllt wurde, und deren Kinder, nicht allzu traurig sind, dass Lewitscharoff – man muss auch gönnen können – ja lediglich „geneigt“ ist, ihnen die Menschenwürde abzusprechen und es nicht frank und frei tut.
Liebe Betroffene, sollten sie heterosexuell sein, können sie sogar noch hoffen, dass die kinderlose Schriftstellerin Ihnen ungefähr eine Dreiviertelmenschenwürde zuerkennt, denn „grotesk wird es spätestens, in den zahlreichen Fällen, in denen sich lesbische Paare ein Kind besorgen“. Irgendwo hört der Spaß auf, da kommt der alttestamentarischen Rächerin keiner mit mehr als halber Menschenwürde durch.
Schriftstellerin in Angst vor Retorten-Nazis
Vor lauter Ekel und Finger auf anderen Leuten lässt Lewitscharoff den Beweis des eigenen Gen-Adels, sozusagen ihren zeugungsbiologischen Ariernachweis, nicht fehlen. „Ich möchte auch an dieser Stelle noch einmal mit aller Schärfe wiederholen, wie froh ich bin, meine Existenz nicht solchen Maßnahmen zu verdanken“. Skeptiker fragen sich vielmehr, ob Präimplantationsdiagnostik eine Sibylle Lewitscharoff hätte verhindern können. Doch sie ist nun einmal da und wähnt sich „ganz echt“ und kein bisschen „abartig“.
„Mit Verlaub,“ – soviel Zeit muss sein – „angesichts dieser Entwicklungen kommen mir die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor.“ Nicht nur, dass Frau Paranoioff zu befürchten scheint, assistierende Fortpflanzungsmedizin solle der Zucht von gemeingefährlichen Übermenschen dienen, sie zitiert auch historisch die falschen Kronzeugen herbei.
„Je länger ich über die hier angerührten Fragen nachdenke, umso mehr schüttelt mich das Entsetzen vor diesem wahrhaft verbrecherischen Eingriff in ein heiliges, nur der Natur und ihrem Wirken vorbehaltenes Handeln“. Wer hat’s gesagt? Die Lewitscharoff?
Nein, es war Reichsarzt SS Ernst Grabwitz, der 1940 genau dieselbe Ansicht zum Thema vertrat, wie die geifernde Griffelquälerin. Den inzwischen fast obligatorisch erscheinenden Nazi-Vergleich wollte Frau L. ohnehin im Nachhinein aber nur der „gewissen Würze“ wegen eingebaut haben. Der Nazi-Vergleich als das zeitgemäße Salz in der Rhetoriksuppe, so schreibt man Reden heute. Sonst noch etwas?
Der mörderische Kern des Erzählens
Neben der Frage, warum sich gerade Frau Lewitscharoff vor intoleranten Herrenmenschen fürchtet, die über die Menschenwürde ihrer Mitmenschen nach Gutdünken entscheiden – ahnt sie etwas? – bleibt unklar: Warum das Alles, worin besteht die Motivation sich derart in Ignoranz zu baden, dass das Retortenkind gleich mit dem Bade ausgeschüttet wird? Die Dame, die auch en passant ein „Onanieverbot für weise“ erachten täte, redet der aggressiven Vulgarisierung jeder ethischen Debatte des Themas das Wort, um ein zentrales Krankheitssymptom unserer Diskurskultur zu beschwören: Das mutige Anstürmen gegen vermeintliche Denktabus. Der Gestus `Das wird man wohl noch sagen dürfen!`, der nicht ohne die Herabsetzung von wie auch immer herbeidefinierten „Anderen“ auskommt, ist nichts weiter als pures Ressentiment. Mit rechts oder links hat das nichts zu tun, eher mit mitten durchs Auge ins Knie. Dass die derart artikulierte Feindschaft einer offenen und toleranten Gesellschaft gegenüber aus eben dieser den Anspruch gehört zu werden ableitet, ist bezeichnend.
Beruf: Schreibtischtäter
Der Schriftsteller, zumal in heutiger weitgehend aufgeklärter Zeit, von Sibylle Lewitscharoff sei mal abgesehen, muss mit dem Verlust seiner Rolle als unhinterfragter Geistesautorität leben. Der zu entrichtende Preis für die künstlerische Freiheit, die es dem Schriftsteller ermöglicht als gesellschaftlicher Kritiker gehört zu werden, besteht in eben der Widersprüchlichkeit, die darin liegt, dass dessen Gegenentwürfe nur symbolischer Natur sind und somit in ihrer Möglichkeit zugleich eine Rechtfertigung des Status Quo enthalten. Die Schläge, die der Künstler austeilt, erfolgen mit Samtpfoten, die Krallen werden woanders gewetzt. So ein Schlag, der gewaltig tut und doch seine Konsequenzen nicht selbst zeitigt: Ist der revolutionär oder nur – erfrischend?
Zweifelhaften Geschöpfen, absurden Künstlerwesen, halb Größenwahn und halb Minderwertigkeitskomplex, die wie Frau Lewitscharoff diesen Zustand nicht aushalten und lieber ewige Wahrheiten von der Kanzel predigen möchten, bleibt nur der Furor.
Frau Lewitscharoff, lassen Sie sich von den schwul-lesbischen Transgender-Retortenhedonisten von Stagecat.de eines sagen: Sie sind nicht gänzlich unbedeutend. Ihr Verdienst besteht darin, den vermeintlich moralischen Konservatismus religiösen Hinter- und Unterweltlertums als das gezeigt zu haben, was er im Kern doch ist: Pures Ressentiment und kalkulierte Ignoranz. Danke dafür.
Der körperlichen Selbstliebe gibt sich genüsslich hin
Ihr Stagecat.de-Team