Dass Berlin eine besondere Stadt ist – insbesondere eine besondere Stadt für Deutschland, lässt sich an den Kontroversen ablesen, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts um dies spezielle „Milljöh“ drehten.
Wahlweise wurde die Spreemetropole als einzige Weltstadt (aus Sicht der Urbanisten), als Sündenbabel (aus Sicht der Konservativen) oder gar als „Grab des Menschengeschlechts“ (der Eugeniker Otto Ammon stellvertretend für die völkische Perspektive) beschrieben, vergöttert oder verteufelt. Berlin selbst, so scheint es, hat sich darum nicht groß bekümmert, war sich stets selbst genug.
Das müßige Leben der Insulaner – Westberliner Subkultur
Welch eine kulturelle Provokation dieses Berlin und die aus seinem Umfeld hervorgehenden Kunstströmungen und Muster der Lebensführungen für den Rest Deutschlands – Berlin und der Rest dürfte eine wohl wechselseitig bewusst oder unbewusst eingenommene Perspektive sein, sei es aus großstädtischer Ignoranz oder provinzieller Projektion – darstellte, wurde bereits zu Zeiten der Weimarer Republik exemplarisch in den Auseinandersetzungen an der Berliner Akademie der Künste offenbar.
Die Zeiten haben sich gewandelt. Heute lechzt selbst das konservative Feuilleton nach Berlin, nichts so hip wie die Hauptstadt. Viel ist zu lesen über den vollständig gentrifizierten Prenzlauer Berg, der sich mit Kreuzberg um den Titel als größte schwäbische Exklave streitet. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung erkennt in Neukölln gar das New York Ende der 80er Jahre wieder. Ist der, abermals polemisch gesprochen, deutsche Rest toleranter geworden? Oder lässt dies auf eine Wandlung Berlins in seinem Wesen schließen? Verstärken sich beide Tendenzen gegenseitig in einer Zeit, die der Totalität der Kommunikation entgegenstrebt, in der die Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit aufgelöst und so auch die Rezeptionsbedingungen von Kunst verschoben werden? In der mitunter auf dem Altar der Ökonomisierung das geopfert wurde, was ehemals Subkultur hieß?
In jedem Wandel bleibt das Anverwandelte als Transformiertes vorhanden. Ein Mythos stirbt langsamer als seine strukturellen Bedingungen, da er die Wahrnehmung von Realität fortdauernd beeinflusst. Vor nicht allzu langer Zeit, in den Nullerjahren, als noch Flugzeuge über den Balkon des Verfassers am Tempelhofer Flughafen dröhnten, beschrieb eine Nachbarin Berlin als die wunderbarste Stadt, wenn man sich ausprobieren möchte. Sie sprach zwar von ungewöhnlichen Geschäftsmodellen, war Inhaberin einer Praxis für Geister- und Koboldaustreibung, doch auch ihrer ökonomisch motivierten Faszination war das Motiv urbaner Freiheit in der Lebensgestaltung inhärent. Der Berliner Laborcharakter, wofür auch immer, ist längst Legende. Hartz IV und der Imperativ allzeitiger Verfügbarkeit sind dennoch auch in Berlin nicht weniger wahr. Wie lautet das Zauberwort?
Flaneure auf nicht-idealistischer Sinnsuche – Wolfgang Müllers Erinnerungen
Der Hamburger Verlag Philo Fine Arts hat die Erinnerungen des Berliner Künstlers Wolfgang Müller verlegt. Müller, Gründungsmitglied der Band „Die tödliche Doris“, nimmt den Leser in seinem umfänglichen Werk mit in die Zeit der Berliner Teilung und lässt großflächig und in assoziativ gereihter Weise die kulturelle Atmosphäre Westberlins auferstehen. In diesem Unterfangen lässt er sich durch eine Trennung in Haupt- und Nebensachen keine Ketten anlegen. Seine Erzählung folgt weniger chronologisch operierenden Ordnungskriterien, er gruppiert recht lose Begebenheiten und Geschichten, persönlich Erlebtes und Stadtgeschichtliches, zu Sinnhorizonten, die sich sprunghaft erschließen. Den fokussierten Zeitraum seiner Bioskopie gibt der Titel an: Subkultur Westberlin 1979-1989. Aus den Details der Müllerschen Narration entfalten sich plötzliche Panoramen, kulturelle Deutungsräume. Westberlin, diese winzige protegierte Insel im roten Meer, durch die Mauer scheinbar beengt, bedrängt, erscheint als eigener Kosmos oder vielmehr: als ein Universum aus lauter Parallelwelten. In den Begriffen kultureller Freiheit betrachtet, eine Freiheit, die Müller gegen den zeitgenössischen „Neo-Individualliberalismus“ und dessen Tendenz zur aggressiven Indienstnahme von Abweichung abgrenzt, erscheint das eingemauerte Westberlin riesengroß, unendlich.
Einleitend erinnert Wolfgang Müller an die 1964 vorgebrachte Forderung Joseph Beuys‘, die Berliner Mauer um 5 cm zu erhöhen, der besseren Proportion wegen. Der Künstler musste sich schriftlich für diese Aussage vor dem Innenministerium von Nordrhein-Westfalen rechtfertigen. In Müllers Lesart dieser Episode tritt das grundsätzliche Missverständnis zwischen den Sphären bundesrepublikanischer Politik und künstlerischer Ästhetik hervor. Ein Missverstehen, das für das Leben in Westberlin visionär kennzeichnend war. Die stark subventionierte Stadt, gedacht als kapitalistischer Brückenkopf, machte sich schnell ihren eigenen Reim auf die Mauer. Unattraktiv für Karrieristen waren es vor allem urbane Aussteiger, Kriegsdienstverweigerer und Künstler, die es auf diese Insel zog. Der Westberliner Müßiggang, als Chance begriffen, brachte eine unglaubliche Vielfalt an kulturellen Ausdrucksformen hervor, eine unübersehbar reiche subkulturelle Szene. Es war die Zeit des Punk und Post-Punk, des Entziehens, Verweigerns und der nicht-idealistischen Sinnsuche. Müller zitiert den Musiker Alexander von Borsig: „In den Achtzigerjahren lief ein ganz normaler Tag folgendermaßen: Irgendwann hast du deine Wohnung verlassen und bist losgegangen, von einem Ort zum nächsten. Wahrscheinlich bist du dann mal sechs Stunden in der Wohnung von irgendjemandem hängen geblieben. Von dort aus bist du wieder in den Club gegangen, der gerade aufgemacht hatte oder noch auf war. Danach bist du wieder weitergezogen. Möglicherweise hast du mal eine Weile geschlafen, bei dir zu Hause oder bei irgendjemandem, den du kennen gelernt hast. Das ging fortwährend immer so weiter“.
Dem Druck der Ökonomie entzogen oder diesen ignorierend gaben sich die Subkultur-Künstler, die „Genialen Dilletanten“ Westberlins, der falsch geschriebene Name eines Musikfestivals im Tempodrom gab Wolfgang Müllers 1981 erschienenem legendären Merve-Sammelband den Namen, als sinngebende Flaneure der Großstadt. Die semantische Spurensuche in der Zeit der Post-Strukturalisten, Müller zitiert Baudrillard, Deleuze, Foucault und Lyotard, verlief entlang der Linien von Entgrenzung und konkreter Aktion. Wahrhaft dilettantisch geführte Buch- oder Musikverlage, die das erwirtschaftete Geld in die unkommerziellen Kunstprojekte ihrer Mitarbeiter „reinvestierten“ sind beispielhaft für das Leben in der Subkultur Westberlins. Der wahre Reichtum liegt eben doch in der Verschwendung.
In der Sprache Müllers finden sich viele Reflexe, die an die Diktion des Strukturalismus anknüpfen, was eine Lektüre unter informativem Gesichtspunkt nicht eben erleichtert. Doch seine Montagen auf Um- und Abwegen bringen immer wieder Erhellendes zu Tage, die Lektüre wird durch Müllers Erzählweise auf eigenständige Produktivität verpflichtet und gibt kaum Grenzen vor. DIY ist die Methode der Wahl noch in der Wiedergabe. Nur eines wird sehr deutlich: Die Mauer schützte Westberlin nicht bloß vor dem ostdeutschen Kommunismus, sondern mindestens so sehr vor dem bundesrepublikanischen Produktivitätsimperativ. Die Insel Westberlin lag zur Zeit der Systemkämpfe im Auge des Hurrikan, dort, wo müßige, womöglich trügerische, Ruhe herrschte, solange man sich nur nicht hinaus begab. Das Zauberwort zu diesem Biotop, dieser so undeutschen Stadt bleibt Wolfgang Müller nicht schuldig, spricht es im Untertitel seines neuen Buches aus: Freizeit.
Biographische Angaben:
Wolfgang Müller: Subkultur Westberlin 1979-1989. Freizeit. Fundus Band 203. Philo Fine Arts, Hamburg 2013. 600 Seiten, 24 Euro.