Uli Hannemann, gebürtiger Braunschweiger, ist auf den Berliner Lesebühnen „Reformbühne Heim & Welt“ und „LSD – Liebe statt Drogen“ eine Institution. Der nebenberufliche Taxifahrer erfreut das Publikum mit kleinen Geschichten um die Absurditäten des Lebens in der „Talsohle“.
Zu den Protagonisten seiner Momentaufnahmen zählen Kleinkriminelle, Säufer und die unvermeidlichen Hundehalter ebenso wie zugezogene Juppies. Die Normallage „Wahnsinn“ ist das Thema seiner Alltagsbetrachtungen, in denen er Miniaturen des aufrichtig beschädigten Lebens entwirft. Angesichts dieses Faibles für das Pathologische kann es kaum verwundern, dass Hannemann seinen Standortvorteil als Neuköllner ausspielt. Im berüchtigten Berliner Unterschichtenbiotop lassen sich schließlich die besten Studien zu Hartz IV als Lebenslos und den ganz banalen Realitäten unterhalb akademischer Integrationsdebatten anstellen. Popliteratur heißt bei Hannemann Proleten – Prosa, Kampfhundekot und Kulturkritik.
„Neulich in Neukölln“ versammelt kurze drei- bis fünfseitige Geschichten, die mit reichlich Freude am Boshaften und mit einer guten Prise Masochismus inszeniert sind. Die konservative Erzählweise aus der Ich – Perspektive, die meist in einem realistisch – rationalen Ton verfährt, wird konterkariert durch die skurrilen Plots, in denen der beobachtende Erzähler zur Zielscheibe der grotesken Aktionen der ortsüblichen Klischeefiguren wird. Psychologie wird hier nicht getrieben – Hannemann entwirft vielmehr ein Panorama Neuköllns als Schattenseite der Konsum- und Spaßgesellschaft. Stellenweise gelingt es ihm, dabei scheinbar irrationale Verhaltensweisen als die wahren Überlebensstrategien im über sich selbst aufgeklärten Prekariat zu enthüllen.
Zu wirklich subversiver Qualität und köstlicher Humoristik schwingt sich Hannemann in den Travestieelementen seiner Prosa auf. Die Persiflierung seriöser Textgattungen wie Reiseführern, Historiendarstellungen, Werbetexten und politischer Essayistik in manchen Prosastücken transzendiert seine Typenkomödien auf satirische Höhen. Gänzlich ohne ironisierende Innerlichkeit der Figuren legt er Bewertungsmuster wie Normalität und Abweichung, Moral und Unwesen als soziographische Konventionen offen, die von der Textur der Wirklichkeit stets unterlaufen werden. Dies gelingt freilich nicht immer. Viele Geschichten bieten nicht mehr als eine Neugruppierung altbekannter Zerrbilder von Charakteren, die Pointen kommen ex machina und entbehren erzählerischen Esprits. Insgesamt bewegen sich die Geschichten von „Neulich in Neukölln“ auf unterschiedlichem Niveau.
Die „taz“, in der häufig Hannemanns Geschichten erscheinen, feierte des Autors Pointen als Resultat der Überhöhung des Alltags. Diese Kritik geht sicher an den wirklichen Stärken Uli Hannemanns vorbei. Sein Humor und die Subversivität seiner besten Texte rührt nicht von einer „Überhöhung des Alltags“ her – die Eliminierung der Unterscheidung zwischen Normal- und Ausnahmezustand ist vielmehr Essenz seiner Prosa. Phasenweise gelingt dabei die Dechiffrierung öffentlicher und publizistischer Diskurse der Wohlstandsgesellschaft als geistig bornierte Besitzstandswahrung. „Es ist die tiefverankerte Hochachtung vor dem aus Erfahrung alles andere als selbstverständlich empfundenen Gelingen des Alltags“, schreibt Hannemann, die die Dankbarkeit des Neuköllners ausmacht. Der Schriftsteller Hannemann lässt sich im besten Sinne als wertkonservativer Anarchist fassen, der die verleugnete Bosheit in der Political Correctness beschwört, um die Verlogenheit der medial herrschenden Hochkultur zu brandmarken; gerade in den Passagen, in denen er der postmodernen Versessenheit auf das witzige Alltagsdetail erliegt, geht diese seine Qualität verloren.
Literaturangaben:
HANNEMANN, ULI: Neulich in Neukölln. Notizen von der Talsohle des Lebens. Ullstein, Berlin 2008. 192 S., 8 €.