„Die Nacht von Wildenhagen“ versammelt die großen deutsch-polnischen Grenzreportagen von Reporter Wlodzimierz Nowak. Sie sind zwischen 1997 und 2006 in der polnischen Zeitung „Gazeta Wyborcza“ erschienen. Gebunden herausgegeben wurde die Sammlung unter dem Originaltitel „Obwod Glowy“ im Jahr 2007 und ein Jahr später für den wichtigsten polnischen Literaturpreis Nike nominiert. Der Eichborn Verlag hat die Reportagen, die sechs schwierige Jahrzehnte deutsch-polnischer Nachbarschaft über typische Schicksalswege beleuchten, dankenswerter Weise nun in der deutschen Übersetzung von Joanna Manc publiziert.
Wlodzimierz Nowak nähert sich in seinen Reportagen der Lebenswelt unterschiedlichster Menschen aus drei Generationen, deren Schicksalswege durch den Grenzfluss Oder geprägt wurden. Er erzählt die Geschichten von Schleusern und Flüchtlingen, Vertriebenen und Profiteuren der Grenze und lässt anhand der geographisch synchronen Studie die Zeiten der deutschen Besetzung, der Vertreibungen der Polen und im Reflex darauf der Deutschen, des Kalten Krieges und des Mauerfalls bis in die Gegenwart hinein lebendig werden. Das Ineinanderfallen von Historie und persönlichen Lebenswegen, das Durcheinander von individuellem Schicksal und kontingentem Geschichtslauf wird beeindruckend nachvollzogen.
Nowak schreibt im Geiste eines Ryszard Kapuscinski oder eines Tiziano Terzani. Ausgehend von einzelnen Zwischenfällen, Grenzübertretungen, -verschiebungen oder -öffnungen nähert er sich den Betroffenen, deren Lebenswege durch die Oder und deren politische Bedeutung gezeichnet sind. Diese sind größtenteils Marginalisierte, nicht selten Kriminelle, denen im Gang der kollektiven Geschichte ihre jeweilige Rolle zugewiesen wird. Die Sprache seiner Reportagen ist direkt und entfaltet eine spröde Schönheit von äußerster literarischer Qualität. Sein Journalismus enthält sich des Meinungsdünkels und verpflichtet den Leser zur Beteiligung an der Interpretation, in deren Fortgang Klischeebilder und die illusionäre Hybris des Historismus dekonstruiert werden.
Den Protagonisten nähert sich Nowak sehr persönlich und holt über die Erinnerungen und oft verworrenen Lebenswege die Geschichte der Oder-Grenzregion in ihren meist tragischen Wechselfällen ein. Dabei bleibt der Blick stets distanziert und beschreibend. Das Nebeneinander und Durcheinander der Eindrücke bei der Annäherung an die verdrängt-lebendige Vergangenheit, an ihr Wiedergängerhaftes, entlarvt bei genauerem Hinsehen das uneingelöste Versprechen der menschlichen Geschichte, die Kehrseite des Zivilisatorischen. Zutage tritt ein desillusionierter, aber auch unreduzierbarer Humanismus, der den Menschen auf beiden Seiten der Grenze in seinem Willen zum Leben unter unterschiedlichsten lokalen und historischen Gegebenheiten zeigt.
Das Trennende der Grenze erscheint als das Verbindende in den Lebenswegen der Menschen. Der Gang der Geschichte macht manche zu vermeintlichen Siegern und viele namenlos zu Opfern. Die Überlagerung der persönlichen Schicksale durch machtgebundene und politische Strukturen eröffnet indirekt eine Perspektive auf wirkliche Freiheit: Die Möglichkeit selbstbestimmten Lebens. Wlodzimierz Nowaks „Die Nacht von Wildenhagen“ ist eine Sammlung großartiger, wahrhaft emanzipatorischer Reportagen, die das deutsch-polnische Verhältnis jenseits von Vorurteilen oder opportuner Verbrüderung als ein gemeinsames zeigt: als Menschliches.
Literaturangabe:
NOWAK, WLODZIMIERZ: Die Nacht von Wildenhagen. Zwölf deutsch-polnische Schicksale. Übersetzt aus dem Polnischen von Joanna Manc. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009. 300 S., 19,95 €.