Es ist viel Zeit vergangen, seit sich mit den Goldenen Zitronen eine der wichtigsten und nachhaltigsten Punk-Formationen Deutschlands gefunden hat. Die Gründung der Band um Sänger Schorsch Kamerun, der inzwischen auch als Theaterregisseur etabliert ist, datiert auf das symbolträchtige Jahr 1984. Seit Orwells Dystopie steht diese Jahreszahl als Synonym einer totalitär gelenkten Öffentlichkeit, in der Überwachung keinen Eingriff in die kommunikative Infrastruktur darstellt, sondern deren integraler Bestandteil ist. Es ist leider mehr als ein zynischer Treppenwitz der Geschichte, dass das Symboljahr 1984 so erschreckend gegenwärtig wirkt. Nach wie vor gehen auch die Goldenen Zitronen ihrer Suche nach Antworten oder vielmehr nach den richtigen Fragen mit allem gebotenen Ernst nach. Dass ätzender Humor und musikalische Subversion zu den Mitteln der Wahl zählen, steht dazu in keinem Widerspruch.
Zueinander gefunden haben die jungen Musiker in der Hamburger Buttstraße am Alten Fischmarkt, wo die Gründungsmitglieder wohnten und sich in der Hausbesetzer-Szene der Hafenstraße bewegten. In jener Zeit des Post-New-Wave wachsen die Punk-Bewegung und das autonome linke Milieu zusammen. Hard-Core und Straight-Edge werden ebenso wie Humorlosigkeit und ästhetische Stagnation im Erleben der Goldenen Zitronen zum Kennzeichen einer Bewegung, die sich nicht mehr bewegen zu wollen scheint und den Gesetzen des „Härter, Schneller, Ernster“ gehorcht. In dieser Zeit der Punk-Orthodoxie machen die Goldenen Zitronen, die ihren Namen steigernd der „Silbernen Zitrone“, dem ADAC-Negativpreis nachempfinden, Fun-Punk und treten in Schlafanzügen, Schlaghosen und Fußballschuhen auf. In der linken Szene machen sie sich damit verdächtig, den Tendenzen zum verpflichtenden Code entziehen sie sich bewusst. Sie selbst sehen sich als „Punk innerhalb des Punk“ und betreiben eine Art humoristisch-radikalisierte Aufklärung innerhalb der Subkultur. Vor den Tücken der Stigmatisierung schützt dieses Verfahren nicht: Ende der 80er Jahre erwarten grölende Spaßpunks und kreischende Mädels die Band auf Tour, die Bravo möchte die Hamburger als Nachfolger der aufgelösten Ärzte aufbauen. Die Goldenen Zitronen bleiben sich treu, wechseln das Label, machen deutlich politisierten Punk und stellen nach dem Debakel der 1991er-Tour das Livespielen ein.
Mitte der 90er melden sie sich dann zurück: Musikalisch wird experimentiert mit Einflussgrößen des HipHop, Garagen-Thrash und Electro-Beats; der Punk-Rock wird aufgegeben, um Punk zu bleiben, dies begriffen als Verfahren fortgesetzter Subversion, zwischen Agitprop und Avantgarde. Selbstreflexiv und –ironisch in der Haltung entdecken die Goldenen Zitronen ihre moralische Ausdrucksform eines Punk, der Diskurse anschiebt anstatt Erwartungen zu befriedigen. Das 2013er Album Who’s Bad? überzeugt als konsequente Fortsetzung des Schaffens dieser Punk-Institution, die um die Gefahren der Logik des Sich-Selbst-Treu-Bleibens weiß und diesen Widerspruch bearbeitet. In dem Song Rittergefühle beschreiben die Goldenen Zitronen moralische Selbstgewissheit als Weg in eine Erstarrung, die unmerklich Züge konservativer Codes annimmt. Die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst eröffnet Perspektiven für die schwierige Suche nach Antworten auf eine Postmoderne, in der das Mediale selbst die Regeln der Diskurse programmiert, in der die Akteure des Politischen in die digitale Anonymität entkommen sind, in der die gesellschaftlichen Konfliktlinien selbst virtuelle Züge bekommen haben.
Die Goldenen Zitronen finden ihre Antwort in einem ästhetischen Verfahren performativer Mimesis, das ohne jede Katharsis auskommt. Musikalisch wartet Who’s Bad?, die moralische Frage nach dem konkreten Gegner ist titelgebend, mit einem elektronischen New-Wave-Sound auf, der unhintergehbar scheint und mit treibenden Drums ein autistisches und hoffnungslos nervöses Universum schafft. Dazu gesellt sich ein perenierender Sprechgesang, der in Aufzählungsketten durch eine Welt permanenter Verweise wandert. Textlich verraten die Songs eine nahezu poetische Meisterschaft, sich am Konkreten zu entzünden und auf umfassendere Missstände hinzuweisen, ohne es an Deutlichkeit ermangeln zu lassen, jedoch auch ohne Auswege zu behaupten. Diesen Sprach-Zynismus bezeichnete die taz in gelungener Wortwahl als „Sauren Regen“ der Worte – freilich bloß um der Band einen Hass auf Sprache allgemein und eine Haltung eingenommener Bequemlichkeit „im Todesstreifen der Marketingsprache“ vorzuwerfen. Man muss schon taz-Leser oder sonstwie kunstfern sein, um mit solchem Instinkthass auf ästhetischen Skeptizismus zu reagieren. Der musikalische Anachronismus des aktuellen Albums ist von ebensolch brennender Aktualität, wie es an der gebotenen Zeit scheint, die Perspektiven politischer Aufzählungslyrik im Deutsch-Punk kritischer Revision zu unterziehen.
Den Goldenen Zitronen geht es in ihrer Selbstreflexion um die Frage, wie dem siegreichen Technokratismus unserer Tage zu begegnen ist. Wie in einem Beschwörungsritual schreiten sie den Kosmos der Zeichen und der Verweise ab, immer auf der Suche nach einzelnen Daten im scheinbar hermetischen posthistorischen Kosmos, die sich zu einem kritischen Diskurs öffnen, sich der postmodernen Beliebigkeit entreißen ließen. Eines der Daten dieses musikalisch abgebildeten totalitären Kosmos sind die Goldenen Zitronen unausgesprochen selbst, wie könnte es anders sein? „Warum ich das hier mache?“ lautet die erste Textzeile des aktuellen Albums. Das letzte Wort des Albums gibt in aller transluziden Undurchsichtigkeit eine Antwort auf die Sinnfrage, die auf die Methode zu ihrer historischen Bearbeitung selbst verweist: „NEIN“. Auf die Frage nach dem „Warum“ mit „Nein“ zu antworten, bedeutet womöglich einen Raum zu öffnen, in welchem sich künstlerischer Sinn jenseits irgendeiner Teleologie konstruieren lässt. Das Bewusstsein, dass die gleichberechtigten Optionen des Anything-Goes einen verschleierten Imperativ enthalten, ist der Schlüssel zu diesem Raum.
Das Gastspiel der Zitronen am 11.01. im Berliner Lido war restlos ausverkauft. Das bunt altersgemischte Publikum schien zu verraten, dass die Emanzipationsarbeit der Hamburger Band nicht folgenlos geblieben ist: Das Auditorium schien eher zur Hamburger Schule als zu einem Punk –Konzert zu passen. Eröffnet wurde der Abend durch das Berliner Unikat Mary Ocher. Das kleine wasserstoffblonde Gesamtkunstwerk dudelte sich allein an der elektrischen Gitarre und dem E-Piano durch ein Vorprogramm, das zwischen Folk, Kraut-Rock und Avantgarde changierte und Assoziationen zwischen Janis Joplin und Amon Düül weckte. Verschroben und interessant, durchaus auch komisch.
Die Goldenen Zitronen selbst präsentierten sich in buntscheckiger Optik: zwischen Bademantel, Leopardenjacke und Schwiegersöhnchen-Ringelpulli war vertreten, was die Kleiderschränke von hier bis Andy Warhol hergeben. Auf der Bühne prangte eine Videoleinwand, auf welcher während des Konzertes Kunstfilme zu Bibelstellen gezeigt wurden, die auf ein Ausbleiben von Handlung setzten und eine bizarre Erlösungsbedürftigkeit auch beim Betrachter hinterließen.
Als Opener und programmatischer Einstieg in den Abend wurde Der Investor vom neuen Album Who’s Bad? gespielt, womit die Richtung des Abends vorgegeben war: Im Mittelpunkt der Setlist und der musikalischen Performance stand die aktuelle Schaffensperiode der Hamburger. Die Band präsentierte sich als engagierte und spielfreudige Electro-Thrash-Band zwischen Avantgarde und Leck-mich. Freilich wollten die überdrehte Bühnenpräsenz der Band und der demonstrative Werkcharakter der Stücke und des Arrangements nicht recht zusammen gehen. Der enorme musikalische und textliche Ernst, der bei allem Humor im Subtext die Gegenwart der Zitronen durchdringt, und das Begeisterung und gute Laune unbedingt einfordernde Auftreten der Band wirkten verstörend und überspannt. Nach den ersten Songs machte sich bei mir eine gewisse Ratlosigkeit breit, was die Zitronen von mir wollten. Ich hatte einen Verdacht, doch wenn ich richtig gelegen haben sollte, so war klar, dass es so einfach nicht gehen würde. Ich vermute, in diesem Gefühl war ich nicht allein, denn konzentriert aber auch eigentümlich paralysiert wirkte das Publikum.
Als Gitarrist Ted Gaier nach einigen Stücken ans Mikrofon trat, um den Gesang zu übernehmen, begann das Gründungsmitglied der Zitronen eine ärgerliche Diskussion mit dem Publikum, Tenor, mit euch ist nichts los. Während Schorsch Kamerun auf überspannte Animation setzte, versuchte es Kollege Gaier mit Publikumsschelte. Alles unnötig wie ein Kropf und auf die Unentschlossenheit der Band zurückzuführen, die nicht wusste, ob Sie mit der Distanz, die ihrem aktuellen Werk innewohnt, ernst machen sollte, oder doch auf die gutlaunige Inspiration zwischen einer Liveband und ihrem Publikum bauen wollte. Der Widerspruch zwischen Arrangement und Auftreten machte sich negativ bemerkbar, es schien als wollte die Band sowohl den Ernst der intellektuellen Anerkennung für sich einfordern, wie zudem als mitreißende Punkrockband gefeiert werden. Des Eindrucks, dass sich die Band damit selbst als Teil des berechtigt kritisierten Verwertungszusammenhangs entlarvte, konnte ich mich nicht enthalten. In diesem Punkt präsentiert sich das neue Album weitaus klüger und selbstbewusster, als es dessen Schöpfer im Lido taten.
Zunehmend wurde der Sound breiiger, wodurch Sänger Schorsch Kamerun mit der Fortdauer des Abends zu einem unverständlichen Rufer in der Klangwüste mutierte. Leider zog sich für mein Gefühl das Konzert, denn das Missverständnis zwischen dem Anspruch der Band und ihrer Musik blieb bestehen. Das Publikum verhielt sich weitgehend ruhig und wohlwollend, was jedoch zu Verstimmungen bei der Band zu führen schien. Es wurde schließlich doch noch Zugabe gefordert, jedoch anscheinend eher aus Höflichkeit, denn aus Euphorie. Diese wurde gewährt, anschließend gingen rasch die Lichter an und die Menge drängte zum Ausgang. Mit dieser verschwand auch ich ratlos in die Nacht. Der selbstgewisse Intellektualismus, das überstrapazierte und nicht ernst gemeinte Performancekonzept der Zitronen in Verbindung mit ihrer kabarettistischen Attitüde ließen mich mit dem merkwürdigen Gefühl zurück, nicht dabei gewesen zu sein. Doch wie heißt es im letzten Song von Who’s bad? (Wer hier): „Wer hier mit dabei ist, kann nicht nur dafür sein“.