Albrecht Selge, Jahrgang 1975, ist ein vergleichsweise junger Autor, der sich in seinem Erstlingsroman durch seine Wahlheimatstadt Berlin hat inspirieren lassen. „Wach“ liest sich als der Versuch einer Phänomenologie des Nebeneinander der Lebenswelten. Die urbane Segregation wird in seinem Werk lesbar als verschüttete Semantik des Ungleichzeitigen, der abgestorbenen oder anverwandelten Möglichkeiten menschlichen Lebens.
Die Bedingung dieser Erkenntnis liegt in der rezeptiven Spurensuche durch den Protagonisten: August Kreutzer – der Name ist Programm – durchstreift rast-, und was noch wichtiger ist, ziellos, von chronischer Insomnie geplagt, die Stadt. Seine Wanderungen führen ihn durch die unterschiedlichsten sozialen Welten der Stadt, zu allen Zeiten und Unzeiten ist er am Platz eines Geschehens, das ihn kaum tangiert. Kreutzer begegnet, ohne einzugreifen, zumeist lediglich von oberflächlichen Anwürfen einer wirklichen Erfahrung berührt, dem Vorgefundenen. An dieser Bewusstseinseinheit Mensch legt sich das ihm begegnende Leben als reines Kondensat ab.
Die Psyche auf dem Opfertisch des Phänomens
Dem Protagonisten August Kreutzer ist das Signum des Funktionalen eingeschrieben. Über das Innenleben, die psychische Beschaffenheit dieses Presseschreiberlings für eine Shoppingmall erfährt der Leser nichts von Relevanz, was der nahezu völligen Indifferenz der Figur geschuldet ist. August Kreutzer erfüllt in diesem Roman die Rolle des Parabolspiegel, in dem sich die Sinnesdata seiner Wanderungen sammeln, er ist mehr Archiv als Mensch.
„Wach“ ist keine Studie über ein Krankheitsbild, die Insomnie des Protagonisten kennt keine Höhen und Tiefen und erfährt keine Resonanz im Seelischen. Die Schlaflosigkeit des Wanderes bildet vielmehr den erzählerischen Katalysator des unverbundenen Nebeneinander des urbanen Lebens. Wie am Nasenring der Narration durch die Welt des Romans gezogen wirkt Kreutzer, der keine persönliche Entwicklung kennt, in den sich lediglich Spurenelemente einer Erfahrung einschreiben. Die Perzeption ohne Filter und ohne mitgeteilte psychische Disposition mündet in ein letztlich konturloses Panorama der Großstadt, über welcher das Wappen totaler Paralyse thront.
Ein Roman ohne Geschichte
Das Problem dieses Romans liegt wesentlich in dem unambitionierten Verhältnis der Erzählinstanz zum Protagonisten. August Kreutzer, und mit ihm dem Phänomen des Großstädtischen, wird durch die Narration weder Gewalt angetan, noch wird er geliebt. Er ist ein Mittel, das scheinbar Zwecklose, höchstens Selbstzweckhafte postmoderner Lebenswirklichkeit darzustellen. Nicht Vanitas ist das Motiv dieses Romans, die johannitische Hure Babylon hat nichts zu fürchten, denn sie bringt den dramatis personae kein Verderben, ihr selbst scheint die unerlöste Fortdauer als Scheintote bereits eingeschrieben.
Wie dem Protagonisten bleibt der Stadt kein Raum zur Entfaltung in der Vertikalen, lediglich eine endlose Kette von Begebenheiten wird notiert. Es scheint, dass der Hure Babylon alle Sünden bereits vergeben sind, doch ohne Katharsis als Akt der erzählerischen Erlösung. Der Versuch eines modernen Großstadtroman scheitet an der Neutralität der mimetischen Erzählhaltung.
Liest man „Wach“ in der Traditon phänomenologischer Prosa, wie sie Sartre exemplarisch in den Roman der Moderne überführt hat, wird das unaufgelöste Dilemma in der Konzeption abermals deutlich. Ohne eine Auflösung in ein erzählerisches Ziel, sei es psychischer, sei es mythischer Provenienz, ohne die Anverwandlung in einen höheren Aggregatzustand des (Bewusst-)Seins, gelingt es nicht zur Bedingung der Möglichkeit des Wahrnehmens vorzudringen. Statt eines literarischen Prospekts entwirft „Wach“ einen Index, der in seiner Verweisstruktur eigentümlich zirkulär bleibt.
Verweise statt Entwicklung
Die Nebenfiguren des Romans wirken in Ihren skurrilen, aber unpersönlichen Aktionen wie Souffleure des verschwundenen Innenlebens der Hauptfigur. Der Vorgesetzte August Kreutzers, der Centermanager des Lustschlösschens, trägt den Namen des zum Bombast neigenden ägyptischen Pharao Xerxes. Er plant die Expansion der Malls und wird zugleich von düsteren Ahnungen heimgesucht. In dessen Namen erscheinen die monatlichen Newsletter der Shoppingmall, die als Montagen unverbundene Markierungen der Zeitlichkeit darstellen, in deren Leerlauf sich die Nicht-Handlung des Romans bewegt. Verfasst werden Sie durch August Kreutzer, der nur in fremden Zungen sich auszudrücken weiß. Beendet werden die Kundenrundschreiben mit dem „ceterum censeo“ Catos. Beziehen sich diese im vorliegendem Fall auf Unterhaltungselektronik, so wird das zerstörerische Potential der Konsumwelt angedeutet.
Ebenfalls als Sprachrohr eines ungerichteten Unbehagens an der Welt ist die Schwester Augusts zu nennen, die sich in einer Art bildungsbürgerlicher Hysterie über die Flachheit der gegenwärtigen Lebenswelt mokiert. Ihre Kritik verbleibt dabei bezeichnenderweise stets auf der Ebene des Symbolischen, es scheint auch für sie keine Wahrheit, es sei denn eine verlorene, zu geben, zu der es unter der Wirklichkeit vorzudringen gelte.
Zuletzt ist die Crepe-Verkäuferin Manja zu erwähnen, mit der sich August die Zeit durch das Erzählen von Geschichten vertreibt. In diesen Erzählungen stehen schicksalhafte Begegnungen oder Erlebnisse einzelner Menschen im Mittelpunkt und es lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, als sehnten sich die Figuren Selges nach einer Entwicklung, einer Erzählung. Doch kennzeichnend bleibt bis zum Ende des Romans eine Atmosphäre der Latenz, die freilich in der leerlaufenden Abfolge von neuen Beobachtungen nie eingelöst, nie zur Deutlichkeit einer Motivation transformiert wird.
Ein Roman, der nicht Roman sein will
Das Obszöne als Essenz des Daseins als Verbraucher, als Teil einer totalitären Verwertungskette, wird gespiegelt im virtuellen Doppelgänger Augusts, der in dessen Namen im Internet auf Porno- und Pöbelseiten Spuren hinterlässt. Doch, man möchte sagen leider, wird dieser interessante erzählerische Kniff auf Handlungsebene aufgelöst und so seines symbolischen Unheils beraubt. Als schließlich August am Ende ex machina mit einer Nahtoderfahrung konfrontiert wird, kommt er zur Einsicht in die Schönheit aller Dinge. Das Groteske dieses Schlusses besteht nicht in der Erlösung der Figur August Kreutzers, sondern in der finalen Verweigerung einer Entscheidung seitens der Erzählinstanz.
„Wach“ liest sich als eine Pyramide von Symbolen, Zeichen, die auf Zeichen verweisen, doch ohne enthüllenden, ohne kritischen Gedanken und bleibt letztlich genau das, was der Erzähler über eine der ungezählten Beobachtungen des Protagonisten verlauten lässt, „eine öde Vitalitätsvortäuschung: hölzern nachgespieltes Leben, detailreich und übercodiert, zugleich in jeder Nuance stockend und undeutlich“. In diesem vortrefflichen, diesem entschlossenen Satz liegt eine Ahnung seiner schriftstellerischen Potenz. Eine klare Entscheidung für den Roman, mit allen Verpflichtungen zur künstlerischen Exposition, oder für eine essayistische Prosa im Stile Walter Benjamins, hätte Albrecht Selge besser angestanden, denn „Wach“ verrät eine Menge über den Bildungshintergrund des Autors, seine Fähigkeit zur beschreibenden Prosa und sein Gefühl für die Gestaltung des Tempo.
Bibliographische Angaben:
Albrecht Selge: Wach. Roman
Berlin, 2011 (Rowohlt Berlin)
252.S. 19,95€ (Hardcover)
ISBN: SBN-13: 9783871346941