Das Schweizer Verlagshaus Dörlemann, spezialisiert auf Übersetzungen und Klassiker der Moderne, hat im vergangenen Jahr Iwan Bunins Erzählungen „Das Dorf“ und „Suchodol“ verlegt. Beide Erzählungen entwerfen impressionistische Panoramen des gesellschaftlichen Lebens im agrarisch geprägten Russland. Bunin-Kenner Thomas Grob gibt die beiden chronologisch einander nahestehenden und bei derer Erstveröffentlichung skandalumwitterten Gesellschaftsporträts in einem sehr schönen Hardcover-Band heraus. Für die Übersetzung zeichnet die versierte Slavistik-Expertin und Christoph-Martin-Wieland-Preisträgerin Dorothea Trottenberg verantwortlich.
Bedrückendes Porträt des russischen Bauernlebens: „Das Dorf“
Der erste Teil des vorliegenden Erzählbandes, dem im Dörlemann Verlag weitere Werke Bunins in Neuausgabe folgen werden, ist der Erzählung „Das Dorf“ vorbehalten. Mit diesem Werk begründete Iwan Bunin, zuvor in erster Linie als Lyriker wahrgenommen, seinen Ruf als exzellenter Prosa-Schriftsteller. Bunin begann mit der Niederschrift an der weitläufigen Erzählung, in welcher er über Jahre gesammelte Versatzstücke von Prosaszenen des dörflichen Alltags in Russland verarbeitete, im Herbst 1909 im Alter von 39 Jahren; im Sommer 1910 beendete er die Arbeit und noch im selben Jahr erschien das, nach dem Reisezyklus „Der Sonnentempel“, zweite breiter rezipierte Prosawerk des Autors, der für seine Verdienste um die Lyrik bereits zweifach mit dem Puschkin-Preis geehrt war. Die Veröffentlichung der Erzählung sorgte für einen Aufschrei in Literaturkreisen, Bunins desillusionierte Schilderung des unaufgeklärten Dorflebens wurde als literarische Kritik an der russischen Politik in Revolutionszeiten rezipiert.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht das ungleiche Brüderpaar Tichon und Kusma Krassow, deren Lebensentwürfe, so unterschiedlich diese sind, auf das gemeinsame, und als unhintergehbar imaginierte Schicksal der bäuerlich geprägten Lebenswelt Russlands am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verweisen. Tichon, der ältere der Brüder, lebt nach den Gesetzen der sich jenseits der Metropolen sehr langsam entwickelnden bürgerlichen Handelsgesellschaft und hat es zu einigem Wohlstand gebracht. Ihm ist es durch harte Arbeit und wirtschaftliche Klugheit gelungen sich zum Besitzer des Guts Durnowo aufzuschwingen, auf welchem sein Urgroßvater zu Zeiten der Leibeigenschaft in einem Willkürakt des Gutsherrn durch Hunde zu Tode gehetzt wurde. In der Enge und Perspektivlosigkeit des Dorflebens leidet Tichon jedoch an zunehmender Entfremdung von seinem nahen Umfeld und wird von existentieller Abscheu gegenüber den realen Lebensverhältnissen geplagt.
Sein Bruder Kusma hingegen hat sich früh vom Leben auf dem heimischen Hof losgesagt und versucht als Dichter in der nächstgrößeren Stadt Fuß zu fassen. Seine Neigung zum Enthusiasmus und zur unreflektierten Selbstbezüglichkeit lassen ihn mit unklaren politischen Gedanken und stets scheiternden Plänen schwanger gehen. Über lange Zeit ergibt sich Kusma dem Alkohol und führt ein regelloses Leben als Herumtreiber. Schleißlich kehrt Kusma an den Hof des Bruders zurück und erlebt gemeinsam mit diesem die politischen Unruhen infolge der Revolution von 1905 und der gescheiterten Demokratisierung. In zahllosen kleinen Szenen, in Gesprächen zwischen den Brüdern und im lakonischen, bis zur bewußten Ödnis getriebenen Erzählstil entwirft Bunin ein Panorama der Verlassenheit, des geistigen Inzests und der Perspektivlosigkeit der ungebildeten Landbevölkerung. Ein grandioses Finale krönt die Erzählung: Die völlig unglückliche und in aller Schicksalsergebenheit besinnungslos durchgeführte Vermählung der jungen Hofmagd, welche Tichon als Mätresse mißbraucht und Kusma unglücklich geliebt hat, mit dem vorlauten Knecht Deniska gehört zu den großen Momenten der Weltliteratur.
Epische Erzählung über den Niedergang des Landadel: „Suchodol“
Im Dezember 1911, ein Jahr nach dem Skandalerfolg seiner Erzählung „Das Dorf“, stellte Iwan Bunin die Erzählung „Suchodol“ fertig, welche 1912 erschien. Dem Dörlemann Verlag gebührt der Verdienst, erstmals die ungeglättete Originalversion in deutscher Sprache zugänglich gemacht zu haben. Die bisher verlegten Übersetzungen greifen auf die in den 1930er Jahren durch den Autor vorgenommenen Bearbeitungen zurück: Diesen Versionen, die der unterdessen mit dem Nobelpreis geehrte und kosmopolitisch orientierte Literaturstar Bunin für die Ausgabe im Petropolis-Verlag vornahm, fehlt nach zahlreichen Kürzungen des Autors vielfach die diskursive Schärfe und emotive Färbung der Erstfassung. Nach den kritischen Stimmen zur düsteren Zeichnung des Bauernlebens in „Das Dorf“ wendete sich Bunin in „Suchodol“ zurück in die Zeit des Krimkrieges Mitte der 1850er Jahre und beschreibt in einem reichen Bilderbogen den Untergang des russischen Landadels.
Erzählt wird die mit autobiographischen Motiven angereicherte Prosaschilderung aus der Ich-Perspektive; den historischen Rahmen und den narrativen Stoff liefert jedoch die ehemalige Magd und Leibeigene des Vaters der Erzählerfigur, Natalja, aus deren Erzählungen vor den Augen des Ich-Erzählers die untergegangene Welt des Adelsguts wiederersteht. „Suchodol“ entwirft ein in melancholischen Farben gezeichnetes Bild der gutshöfischen Gemeinschaft, in deren Leben sich die historischen Entwicklungen des Sozialgefüges in Form persönlicher Tragödien spiegeln. Die Kluft zwischen den urbanen und progressiven Eliten und der rückständigen Landbevölkerung spricht sich in der Unfählgkeit zur sozialen Erneuerung der Suchodoler Gesellschaft aus. So führt das rituell aufrechterhaltene gutsherrliche Auftreten der Besitzer, dem kein reales und politisch legitimiertes Fundament zugrunde liegt, beispielsweise zum Mord am Gutsherren durch den Diener Gerwaska, selbst als unehelicher Sohn seines Opfers Produkt fehlender Grenzziehung zwischen den ehemals feudal definierten Klassen.
Wie bereits in der Erzählung „Das Dorf“ wählt Bunin auch in „Suchodol“ jedoch ein exemplarisches Frauenschicksal als Katalysator der Geschichte: Natalja gesteht in ihrem Bericht, der zugleich Züge einer Lebensbeichte annimmt, von ihrer jugendlichen Liebe zu ihrem Herren, die sie in einem Moment träumerischen Narzissmusses zum Diebstahl eines hübschen Spiegels verleitet, für welchen sie eine übermäßig harte Strafe erfährt. Infolge dieser Grausamkeit auf Geheiß der psychisch labilen Herrin fällt die Magd Natalja in einen fatalistischen Zustand, welcher sie schließlich die Vergewaltigung durch einen herumziehenden Gauner als gerechtes Schicksal erleben lässt. Es sind jene zähen und unglücklichen Frauenfiguren, an denen Bunin das Bild einer gewalttätigen und zugleich schicksalsergebenen Gesellschaft enwirft, welcher die Kraft zu einem selbstbestimmten und zukunftsorientierten Horizont abgeht.
Dörlemann präsentiert mit dem vorliegendem Erzählband den großen russischen Literaten und gesellschaftlichen Chronisten Iwan Bunin in ursprünglicher und ungeglätteter Form. Eine ergreifende Lektüre, die in ihrer Beschreibung historischer Verwerfungen, der unglücklichen Zeiten nicht begriffener sozialer Wandlungen angesichts der Probleme unserer Zeit brennend aktuell wirkt.
Bibliographische Angaben:
Iwan Bunin: Das Dorf. Suchodol (Zürich 2011). Erzählungen
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Grob
384 Seiten. Leinen mit Leseband
€ [D] 24.90 / € [A] 25.60 / SFr. 36.00 (UVP)
ISBN 9783908777700