Der Glückschuh Verlag ist ein neues Gesicht in den Reihen der Kinderbuchverlage. Das Unternehmen aus dem brandenburgischen Falkensee wurde im Jahr 2011 gegründet. Zur Herbstsaison sind die ersten Titel erschienen, die sich in erster Linie an Kinder im Grundschulalter richten. Gegründet wurde der Verlag von Dorothea Flechsig, aus deren Feder auch sämtliche Titel des ersten Programms stammen.
Wer in Anbetracht dieses Umstandes die Stirn in krause Falten legt, sieht sich jedoch rasch widerlegt: Als ehemalige Journalistin, Drehbuchschreiberin und Autorin für teils sehr populäre Kinderformate weiß die Neu-Verlegerin ihre kreativen Fähigkeiten richtig einzuschätzen: Gelegentlich sollen ja Menschen zu Verlegern geworden sein, weil sie für die eigenen Erzeugnisse keinen Verlag fanden und sich doch zur Schriftstellerei berufen fühlen; in diesem Fall jedoch rechtfertigt die Kunstfertigkeit die Übernahme des unternehmerischen Risikos.
Bücher und Hörbücher für Kinder ab 5 Jahren
Der Verlag Glückschuh produziert Bücher und Hörbücher für Kinder ab dem Interessenalter von 5 Jahren. Der Namenspatronin des Verlags, der jungen Mädchenfigur „Petronella Glückschuh“, ist die erste Buchreihe des Verlags gewidmet, untertitelt mit „Tierkindergeschichten“. Diese Beschreibung kann zugleich als Charakteristikum des bisherigen Programms angesehen werden: Auch in der Reihe „Sandor“, in der bisher zwei Titel als Hörbuch erschienen sind, steht das Miteinander von Mensch und Tier im Mittelpunkt.
Deren namensgebender Protagonist gehört als großer Abendsegler nämlich zur Familie der Glattnasen. Und wie der Untertitel der ersten Folge zurecht präzisiert, handelt es sich bei Sandor gar um eine „Fledermaus mit Köpfchen“. Denn Sandor, der sich im Rollokasten einer Grundschule eingenistet hat, ist es auf diesem Weg im Laufe der Zeit gelungen, sich die menschliche Sprache in geflüstertem Wort und Schrift und selbst das Rechnen anzueignen. Und damit sind die Voraussetzungen geschaffen, um sich mit Jendrik anzufreunden, der als Schüler den Platz unterhalb dessen Behausung besetzt.
Lebensnahe Geschichte mit viel Phantasie
Die Handlung des ersten Hörbuchs der Sandor-Reihe kommt mit dem Kennenlernen der Fledermaus und des Jungen Jendriks ins Rollen. Bereits zu Beginn zeigt sich der liebevolle Blick für die kleinen Fehler, die Abweichungen von der Norm, an denen Menschen und eben auch Fledermäuse ihre Zuneigung anknüpfen; ein Strukturelement, das für die gesamte Geschichte kennzeichnend bleibt, ohne je ins Spleenige oder Selbstzweckhafte abzurutschen. So ist es Jendriks zweifelhafte Begabung mit der Kreide an der Tafel zu quietschen, die den im Ultraschallbereich gut und gern hörenden Abendsegler Sandor für den schüchternen Jungen einnimmt. Und Jendrik ist wohl der erste Mensch, der, wie der Titelsong andeutet, in der Fledermaus nicht ein Ungeheuer sieht, sondern deren faszinierende und liebenswerten Eigenschaften erkennt.
Die Figur Sandor zieht Kinder schnell in seinen Bann. Denn welcher junge Hörer würde nicht gern nachts wach bleiben, herumfliegen und Abenteuer erleben und hätte zudem die Fähigkeit, sich fast überall unbemerkt verstecken und lauschen zu können? Doch nicht nur Projektionsfläche bietet die Figur Sandor, sondern auch Identifikationspotential, denn häufig fühlt sich Sandor auch einsam, da es kaum noch Fledermäuse in Deutschland gibt, mißverstanden und neigt auch ein wenig zu Eifersucht und zum Schmollen, wenn er nicht genug Aufmerksamkeit bekommt. Diese Ecken und Kanten weisen alle Figuren der Handlung auf, wodurch sie sehr plastisch und authentisch erscheinen. Damit verbunden ist ein weiteres Qualitätsmerkmal der Geschichte: Ohne Konservatismus und erhobenen Zeigefinger werden in diesem Hörbuch Kindern und erwachsenen Hörern, denn auch solche können Sandor mit Freude und Genuß hören, Werte vermittelt.
Alle Elemente der Handlung wirken wie aus dem Leben gegriffen: Die Mutter Jendriks und seines kleinen Bruders Tom ist alleinerziehend, und gelegentlich auch chaotisch und überfordert. Jendrik fragt sich manches Mal, wie es wäre, wenn sich die Eltern nicht getrennt hätten und schämt sich gelegentlich für seine etwas extravagante Mutter. Doch wenn es drauf ankommt, halten alle Figuren zusammen und wissen was sie aneinander haben. Im Laufe der Freundschaft zwischen Jendrik und Sandor gibt es nicht nur Abenteuer zu bestehen, die Beiden müssen auch um die gemeinsame Freundschaft kämpfen. Denn als Jendrik beispielsweise wahrheitsgemäß berichtet, dass eine sprechende Fledermaus ihm bei seinem Referat über eben jene Tierart geholfen habe, sieht seine Mutter den Punkt gekommen, einen Kinderpsychologen zu Rate zu ziehen, der jedoch die besorgte Erziehungsberechtigte beruhigen kann. Schließlich entwickelt sich Jendrik in der Verbindung mit seinem tierischen Freund, den nur er sprechen hören kann, prächtig und gewinnt an Selbstvertrauen wie auch an sozialer Anerkennung.
Sprecher in Bestform, Titelsong mit Ohrwurmpotential
Die Geschichte „Sandor – Fledermaus mit Köpfchen“ überzeugt durch authentische Figuren, durch eine originelle und durchaus unkonventionelle Handlung und ist auch in ihren phantastischen Elementen sehr lehrreich. Viele Informationen über die Lebensweise von Fledermäusen werden organisch in die Geschichte eingebunden transportiert und en passant Werte wie Offenheit und Mut im Umgang mit Natur und Mitmenschen gleichermaßen vermittelt.
Die individuelle Zeichnung der Figuren wird durch Sprecher Nicolaus Alexander Böll, bekannt als Schauspieler und Synchronsprecher u.a. von Joaquin Phoenix, William Baldwin oder Emilio Estevez, sehr schön und pointiert herausgearbeitet. Sein Vortrag ist variantenreich, in der direkten Rede wechselt er gekonnt die Koloraturen und spielt Stimmungen schön und mit Freude am Theatralischen aus. Böll setzt in der Performance durchaus eigene Akzente, wenn er z.B. Sandors Charakter durch gedehnte Vokale, getragenes Tempo und hohe Töne eine kapriziöse und leicht eitle Seite abgewinnt, die sich wunderbar in die Geschichte einpasst und der Figur keinesfalls schadet.
Der Titelsong, geschrieben von der Autorin Dorothea Flechsig und gesungen durch die Musical erfahrene Jeanette Friedrich, ist sehr eingängig und richtet sich einladend in der zweiten Person an den Hörer. Die Musik von Christian Stader, Tonmeister am Nationaltheater Mannheim, wirkt fröhlich und auf witzige Weise überdreht. Die CD wird geliefert im robusten Jewel Case, das schmale Booklet, hübsch illustriert von Christian Puille, enthält Porträts der Mitwirkenden und Hinweise auf das Verlagsprogramm. Insgesamt handelt es sich um eine sehr gelungene Produktion und ein Hörbuch, das allen Hörern ab 5 Jahren aufwärts sehr zu empfehlen ist.
Bibliographische Angaben:
„Sandor – Fledermaus mit Köpfchen“, Hörbuch von Dorothea Flechsig
Spielzeit: 77:30 Min., 9,95€ UVP
ISBN 978-3-00-033044-5