Im Jahr 1900 wurde der vierzigjährige Anton Pawlowitsch Tschechow – er war damals bereits von mehreren Blutstürzen und der Lungentuberkulose schwer gezeichnet – als Ehrenmitglied in die Akademie der Wissenschaften zu Sankt Petersburg gewählt, gemeinsam mit Lew Nikolajewitsch (kurz: Leo Tolstoi). Diese zeitliche Koinzidenz am Ende des neunzehnten Jahrhunderts steht beispielhaft für die Epoche der großen russischen Literatur. Neunzehn Jahre zuvor war das Genie des frühen Expressionismus Fjodor Michailowitsch Dostojewski ins Grab gesunken. Seine Zeitgenossen Tolstoi und Tschechow waren die vielleicht bedeutendsten Realisten der Weltliteratur und zusammen mit Dostojewski bildeten sie eine Troika, die das neunzehnte Literaturjahrhundert für immer untrennbar mit Russland verbindet. Insbesondere die realistische Spielart wurde zur literarischen Meisterschaft und einer erhabenen praktischen Weisheit getrieben, die in der Darstellung der menschlichen Natur ihresgleichen sucht.
Die in dieser Kompilation versammelten Liebesgeschichten entstanden im Zeitraum von 1886 bis 1899 und entstammen der dankenswerten Werkübersetzung aus dem Jahr 2004 bei dtv. Die erste deutsche Gesamtausgabe Tschechows erschien ebenfalls in den Jahren 1900 bis 1904 bei Diederichs in Leipzig. Sein Weltruhm zu Lebzeiten fußte wesentlich auf seiner Kunst als Dramatiker, doch seine kurzen Erzählungen geben nicht weniger Zeugnis von der Meisterschaft ihres Verfassers. Acht dieser novellistischen Kleinode versammelt dieses Taschenbuch, darunter die späten und viel gerühmten „Ariadna“ und „Die Dame mit dem Hündchen“.
Im Mittelpunkt der auktorial geschilderten Erzählungen steht die spezifische Entfernung zweier Menschen zueinander, die sich aus Sehnsucht und Imagination speist und an der Realität und deren Widerständigkeit stets bricht – die Liebe in ihrer melancholischen Spielart. Dem Diskurs entsprechend entstammen die Protagonisten zumeist dem provinziellen Adel, sie haben folglich in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs genug Zeit und häufig auch materielle Not bei angestammtem Anspruchsdenken, um sich der Sinnsuche hinzugeben und von der romantischen Liebe umgetrieben zu werden. Die Art und Weise, wie Tschechow die Attraktions- und Abstoßungskräfte zwischen den Liebenden beschreibt, ist bemerkenswert und im allerbesten Sinne klassisch zu nennen. Die Charaktere der Figuren rücken ganz in den Fokus der Betrachtung und die Handlungsführung ist einzig der Leidenschaft ihrer Emotion verpflichtet. Ein radikaler Impressionismus ist der Gestus der verwendeten Sprache, die Rasereien und die Melancholie der Liebenden ist objektive Folge des Gegensatzes von Selbstbehauptung und –aufgabe in einer Liebe, die dem Realitätsprinzip nur zu gern entgegensteht und an diesem ihre Verzweiflung findet.
Tschechow verzichtet im Plot konsequent auf jede Intrige und Döppelbödigkeit. Seine Art zu schreiben steht dem damaligen Usus diametral gegenüber. Das kann sich nur ein wirklicher Kenner des Menschen leisten. Als großer Tragiker schöpft Tschechow aus der Unvollkommenheit der menschlichen Seele, nichts Maschinelles oder Künstliches benötigt er, um die ewig gleichen und stets unverwechselbaren Geschichten der Liebe abzurunden. Das Unvollkommene im Leben und die große Kraft der Sehnsucht, die dieses auf abgründige Weise transzendiert, sind seine Themen. Nur in der Liebe können Tschechows Figuren leben, in einer Liebe, die Ihnen nicht selten das Leben unmöglich macht.
Die Schilderung der dunklen Schlünde des Seelischen kommt ohne jegliches Psychologisieren aus und offenbart den Menschen als ein schwaches Wesen, dessen Handlungen und Motive dennoch alle von Seele zeugen. Keine Figur Tschechows wird zum Klischee. In der Verwirrung und dem Leid, das sie einander antun, sind sie noch alle Menschen und verdienen kein Gericht. Das aus dem deutschen Biedermeier bekannte Moralisieren und religiöse Transformieren der romantischen Liebe steht der Literatur Tschechows fern. Die Melancholie, die die Liebenden umgibt, erfährt keine Auflösung. Zeit und Raum bleiben unabweisbare Parameter, an denen sich das Leben abzuarbeiten hat. Exemplarisch für die Suche nach Selbstüberschreitung tauchen Tschechows Geschichten aus einem potentiell unendlichen Fundus auf.
In unserer Zeit sind andere literarische Diskurse bedeutsamer, die Liebesliteratur von Tschechow hat in ihrer Tiefe und wunderbaren sprachlichen Gestaltung jedoch einen Stellenwert, der über jede Mode erhaben ist.
Literaturangabe:
TSCHECHOW, ANTON: Liebesgeschichten. Übersetzt aus dem Russischen. dtv, München 2009. 239 S., 7,90€.