Ich hatte als Rezensent an dieser Stelle bereits das Vergnügen, die beiden jüngsten Kurzgeschichtenbände des Berliner Popbeauftragten für Rinnsteinliteratur Uli Hannemann zu besprechen. In der Reihenfolge meiner persönlichen Lektüre halte ich nach „Neulich in Neukölln“ und „Neulich im Taxi“ nun mit „Hähnchen leider“ den fehlenden Teil des schriftstellerischen Œvres Hannemanns in Händen. In der Bibliographie des Autors kehre ich jedoch an die Anfänge zurück; mit „Hähnchen leider“ hat der Berliner Satyr Verlag den lange vergriffenen Kurzgeschichtenerstling neu aufgelegt, in poppiger Optik und frisch überarbeitet.
Wie es Kennern des Autors bekannt ist, pflückt Uli Hannemann, um es in freier Anverwandlung der Worte Walter Benjamins zu sagen, schriftstellerisch ‚Blumen am Rande des Existenzminimums’. Seine Kurzgeschichten oder Prosaminiaturen, zumeist im Umfang zwischen zwei und fünf Seiten, gleichen Wanderungen durch eine Dantesche Hölle, die Welt des so genannten Lumpenproletariats. Die Prosa Hannemanns oszilliert im narrativen Aufbau zwischen den Mustern des deutschen Pop mit Elementen bürgerlicher Erzähltraditionen und radikaleren Pulp-Einflüssen der jungen amerikanischen Szene der 1960er Jahre.
Was Hannemann außergewöhnlich macht, ist seine Begabung zur anarchischen Travestie literarischer Topoi und kultureller Werte bürgerlicher Erzähltraditionen. Das Talent dieses Autoren zeigt sich, wenn er das Anekdotische verlässt und rationale Erzählmuster auf die absurdesten Mini-Plots anwendet, wenn er bildlich gesprochen in der Kloake nach Schätzen taucht oder umgekehrt auf hübsche Szenen und dankbare Motive mit einer Freude am narrativen Frevel losgeht, die der Leser unwiderstehlich teilt. In der Anwendung dieser alchimistischen Verfahren profiliert sich Uli Hannemann als ein herrlich-rotziger Bastard urbaner Literatur.
Wie ich bezüglich Hannemanns Prosa in diesem Medium beschrieben habe, ist sie in ihrem versteckten Gehalt moralisch. Auf die erwartete Erlösung verweist der Frevel. Was „Hähnchen leider“ von seinen Epigonen unterscheidet ist – abgesehen von einigen Geschichten wie etwa ‚Die Mitte Berlins’ oder ‚Die Moabiterin’, die in „Neulich im Taxi“ vier Jahre später erneut abgedruckt wurden – die frische und junge Erzähl-Wut des Autoren, die sich in einer stärkeren Tendenz zur Satire, zum Ätzenden ausdrückt. Der Erstling „Hähnchen leider“ ist in der Troika des Hannemann’schen Schaffens das aufrichtigste und böseste Buch.
Dem Autoren-Vorwort zur Neuauflage des Erstlings ist genau diese subversive Tendenz zu entnehmen, wenn Hannemann in die Entstehungsgeschichte hinter den Kulissen blicken lässt und beschreibt, wie er als Autor durch den Verlag mit fingierten Sexanzeigen angelockt und anschließend erpresst wurde. Die Geschichten in „Hähnchen leider“ fallen, ohne die konzeptuelle Festlegung auf ein Leitmotiv bissiger aus; Geschichten wie ‚Der Arsch der Welt hat ein schönes Gesicht’ sprühen vor Sarkasmus, journalistische Parodien à la ‚Wie es wurde, was es ist’ entfalten süffisant Guerilla-Qualitäten und haben einen lachenden Rezensenten gesehen.
„Hähnchen leider“ erzählt sowohl in die Werkgeschichte Hannemanns eingeordnet, als auch isoliert im literarischen Gehalt betrachtet, von den Segnungen des Frevelhaften, des Bösen und vordergründig egomanischen Schreibens, das in seiner Unberechenbarkeit auf die Konformität der Marktgesetze und des kulturellen Massengeschmacks ironisch hinweist und diese – man muss es so sagen – nach Strich und Faden verarscht. Nun, da ich in meiner Lektüreabfolge zu guter Letzt das Debütwerk Uli Hannemanns in Händen halte, erscheint es mir, als wäre meine in der letzten Kritik geäußerte Autorenmahnung, Hannemann möge doch aufhören an die Leser zu denken, erhört worden. Auf das aus einer rückwirkenden Prophezeiung eine Erinnerung an die Wurzeln werde.
HANNEMANN, ULI: Hähnchen leider. Satyr Verlag, Berlin 2010. 208 S., 12,90 €.