Die konservativen Argumente in der Kulturdebatte um Berlin und die Angriffe gegen Alfred Döblin.
Auch zu Zeiten der ersten deutschen Demokratie stellte Berlin einen Immigrationsmagneten dar. Im Unterschied zur Gegenwart handelte es sich jedoch vor allem um Arbeitsmigration infolge der Industrialisierung. Mit 4 Millionen Berlinern in den 1920er Jahren war die Einwohnerzahl vor 90 Jahren um etwa eine halbe Million höher als heute. Dafür war vor allem die Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin 1920 verantwortlich. Berlin war zur zweitgrößten Stadt der Fläche nach und zur drittgrößten Stadt nach der Einwohnerzahl geworden – weltweit.
‚Weltstadt‘ oder ‚Chaos‘ – die erste deutsche Metropole
Das ländlich geprägte Deutschland, anders als Frankreich oder England an keine zentrale Metropole gewöhnt, reagierte aus kulturkonservativen Kreisen mit heftigem Widerstand gegen die neue Weltstadt allgemein und im Besonderen gegen deren kulturelle Fürsprecher. Das organische Wachstum der Großstadt, welche Döblin als notwendigen Teil des menschlichen Zivilisationsprozesses sah und in Verbindung mit sozialistischen Utopien begrüßte, wurde Berlin grundheraus abgesprochen. Die neue Weltstadt galt als ein künstliches Gebilde, als willkürliches Flickwerk, dem es an einer als „natürlich“ apostrophierten Ordnung fehle.
Das „Organische“ und das mit diesem eng verbundene „Gesunde“ waren in den Diskursen der Weimarer Republik unabweisbare Qualitätszuschreibungen, die Grenzen des Ästhetischen, Historischen und Kulturellen überbrückten. Berlin galt den Kulturkonservativen der Zeit als ‚anorganisch‘, ‚krank‘ und Ausdruck eines schädlichen Amerikanismus. Die kulturkonservative Debatte um Berlin berief sich auf einen prominenten deutschen Fortschrittspessimisten: Oswald Spengler gab mit seiner Schrift Der Untergang des Abendlandes (1918/1922) dem Diskurs Stichworte und Richtung. Spenglers Unterscheidung von Zivilisation und Kultur wirkte bestimmend für die argumentativen Linien: Dem Pol der „Kultur“ wurden Werte wie Tradition, Seele und Metaphysik zugeordnet. Paradigmatisch stand für diese – in Spenglers Denken – evolutionäre Epoche die „Landschaft“.
Oswald Spengler als Souffleur des Kulturkonservatismus
Dem Antagonisten „Zivilisation“ wurden die Attribute Fortschritt, Geist und Sachlichkeit zugeordnet. Das der „Zivilisation“ zugeordnete Bild war die „Weltstadt“. Als Gegenbild zur organischen Natur wurde die Stadt als kalte und chaotische Hybris der entseelten abstrakten Vernunft gezeichnet. Die Entstehung einer solchen wie im Falle Berlins bedeutete für Spengler das sichere Indiz für das Ende, den Untergang eines evolutionären Zyklus. „Die Landschaft bestätigt das Land […] erst die späte Stadt trotz ihm. Sie verneint alle Natur“.
Das kulturkonservative Milieu erblickte in Berlin ein rationalisiertes und widernatürliches Gebilde. Die sozialen Fortschrittsutopien wurden als Vermassung und Profanierung des deutschen Menschen abqualifiziert. Die in Berlin verkehrenden Eisen- und Straßenbahnen, die großflächige elektrische Beleuchtung und die sozialen Gegensätze im großstädtischen Milieu wurden als Decadence-Symbole gedeutet.
Anstoß erregten zudem die glänzenden Amüsierbetriebe der Stadt, die Varietes und Nachtcafes, die das Bild Berlins als Sündenbabel prägten. Die Hauptstadt der ungeliebten Republik galt zudem als Brutstätte linker Ideen, die in den ländlichen Gegenden vehement abgelehnt wurden. Im engeren Bereich des Kulturellen galt Berlin als intellektuelles Massengrab: Neben einer rein geistigen und sachlichen Literatur stehe unverbunden das sündhafte und stumpfe Amüsement der Massen.
Zielscheibe pseudoliterarischer Kritik: Alfred Döblin
Alfred Döblin hatte sich in seinem journalistischen und schriftstellerischen Schaffen von Beginn an mit Berlin und dem großstädtischen Leben beschäftigt, was in den Augen vieler Zeitgenossen die Hinwendung zu einem schlechterdings unwürdigen Gegenstand für einen Intellektuellen darstellte. Seit 1925 war Döblin zudem aktives Mitglied der „Gruppe 1925“, eines Zusammenschlusses linksliberaler und kommunistischer Schriftsteller. Durch seinen Roman Berlin Alexanderplatz lenkte Döblin 1929, noch befeuert durch den Vorabdruck in der konservativen FAZ, die Aufmerksamkeit der Berlin-Kritiker auf sich.
In der Geschichte Franz Biberkopfs sahen konservative Kreise „einen neuen Großangriff auf die deutsche Landschaft beginnen.“, so der Kommentar Wilhelm Stapels in dem Magazin Deutsches Volkstum. Die Stadt Berlin zu einem Gegenstand künstlerischer Arbeit zu machen, hieße im Geiste des Republikanismus die verheerende Kulturwende einzuleiten, die die deutsche Landschaft zur Provinz degradierte und letztlich den Untergang Deutschlands verursache. „Deutschland wird Berlin hörig“ warnte die Zeitschrift und orakelte über den linken Internationalismus: „Unser ist der Orient! Unser ist der Occident! Nord- und südliches Gelände nehmen Ullsteins in die Hände“!