Im Verlag Königshausen und Neumann ist die Aufsatzsammlung „Walter Benjamin und das Wiener Judentum“ erschienen. Eine Besprechung.
Die Aufsatzsammlung „Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938“ stellt die Erträge der Internationalen Walter Benjamin Gesellschaft vor, die im Rahmen der Wissenschaftstagung „Wien und die jüdische Erfahrung 1900-1938“ erarbeitet wurden. Dieser Band, der als fünfter in der Reihe der „Benjamin-Blätter“ bei Königshausen & Neumann erschienen ist, zeichnet in acht Aufsätzen die geistige und textuelle Verbindung zwischen Walter Benjamin und der jüdischen Intelligenzia zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nach. Herausgegeben wurde der Wissenschaftsband von dem Quartett Sascha Kirchner, Vivian Liska, Karl Solibakke und Bernd Witte. Die beiden letztgenannten Editoren bereichern das Werk mit eigenen Aufsätzen.
Walter Benjamin und die jüdischen Intellektuellen in der Wiener Moderne
Die Wiener Moderne stellte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen kulturellen Glanzpunkt in künstlerischer und wissenschaftlicher Hinsicht dar. In den Salons der Intellektuellen gedeihen kosmopolitische Strömungen und es werden auf nahezu allen Gebieten des kulturellen Lebens neue Höhen erreicht. Im Schatten dieses aufgeklärten Milieus entwickelte sich der Geist der Reaktion und des Antisemitismus, stetig anwachsend und schließlich sich katastrophisch entladend. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde durch jahrelange Repressionen des jüdischen Geisteslebens und modernen Denkens überhaupt vorbereitet.
Walter Benjamin lebte, unterstützt durch seinen Schwiegervater, den zionistischen Publizisten Leon Kellner, vom Dezember 1919 bis März 1920 in Wien und besuchte diesen auch in den Zwanziger Jahren wiederholt. In Wien kam Walter Benjamin durch Kellner, der als Nachlassverwalter Theodor Herzls auch dessen Biographie 1920 in Wien publiziert hatte, mit der jüdischen Intellektuellenszene in Berührung, welche die Wiener Moderne, u.a. in Personae Sigmund Freuds, Arnold Schönbergs, Karl Kraus‘ stark prägte.
Benjamins Werk vor dem Hintergrund der „Wiener jüdischen Erfahrung“
Walter Benjamin hat sich in zahlreichen Texten explizit mit dem Schaffen und Denken des modernen Wiener Judentums auseinandergesetzt. Die vorliegende Aufsatzsammlung enthält acht Beiträge, die Benjamins Mitwirken an der Wiener Moderne nachzeichnen, Spuren seiner Wiener Zeit und Parallelen zu ihm bekannten Denkern in dessen Werk aufweisen.
Bernd Witte untersucht Walter Benjamins Essay über die feuilltonistischen Schriften des gefürchteten Satirikers Karl Kraus. Sehr informativ bezieht Witte die Kritik Benjamins an Kraus auf seine eigene nie systematisierte Sprachphilosophie und analysiert en passant die Entwicklung des Feuilletons seit Heinrich Heine.
Anja Lemke liest Freuds Erinnerungstheorie und Benjamins Erinnerungspoetik parallel und deutet sehr aufschlussreich Benjamins Sprache als praktische Mnemotechnik; das Symbol wird ihm eine Brücke ins Unbewußte, ein Erlebnisraum. In der Aufhebung der Trennung von affektlosem Erinnerungssymbol und dem affektbeladenen Raum des Unbewußten geht Benjamin klar über Freuds Psychismus hinaus.
Karl Ivan Solibakke vergleicht die Deutungen des Musikalischen als klangliche Erinnerungskultur und paradigmatische Kunst im Übergang von der Spätromantik zur Moderne bei Adorno und Benjamin. Der gemeinsame Referenzpunkt ist Gustav Mahler, der 1910 in Wien mit seiner 8. Symphonie seinen größten Erfolg feierte.
Auf die Spuren des musikalisch inspirierten Geniekultes begibt sich Florian Trabert, der die ästhetische Theologie Arnold Schönbergs untersucht.
Benjamins Verhältnis zu den Toten untersucht Anne-Kathrin Reulecke. Reulecke präsentiert einen engagierten Beitrag zu dessen metaphysischem Geschichtsbegriff im Eingedenken.
Karin Stögners Beitrag zum Verhältnis Walter Benjamins zum Körperkult seiner Zeit ist äußerst lesenswert. Nicht nur die spannende Episode Benjamins mit Gustav Wyneken wird aufgearbeitet; es gelingt Stögner auch in diesem knappen Aufsatz eine komprimierte Geschichte der Jugendbewegung zu erzählen.
Volker Barth analysiert Benjamins dezidiert historische Schriften im Hinblick auf ihren philosophisch-utopischen Gehalt und problematisiert diese gekonnt gegen einen simplifizierenden Revolutionsbegriff.
Peter Weibel vollendet diesen Forschungsband mit einer Skizze des Untergangs der Philosphenschule des Wiener Kreises.
Fazit
„Walter Benjamin und das Wiener Judentum“ ist eine für Benjamin-Kenner sehr empfehlenswerte Anthologie, die gerade in der kursorischen Einbeziehung unterschiedlichster Einflussgrößen auf das Werk des Philosophen einen wichtigen Zugewinn darstellt. Es gelingt den Autoren nicht nur Benjamin umfassend in seiner Zeit zu verorten und seine geistige Physiognomie zu verdeutlichen, sondern auch neue Aspekte an Benjamins Denken aufzuzeigen.
Größtenteils sind die Aufsätze zudem sprachlich, soweit es im Rahmen eines Fachbuchs möglich ist, allgemein verständlich geschrieben und vermitteln auch dem Benjamin-Laien interessante Einblicke. Für ein philosophisch nicht vorgebildetes Publikum ist dieser Band freilich nicht zu empfehlen.
Bibliographisches
Sascha Kirchner / Vivian Liska / Karl Solibakke / Bernd Witte (Hrsg.): Walter Benjamin und das Wiener Judentum zwischen 1900 und 1938. ISBN: 978-3-8260-4246-1. Königshausen & Neumann, Würzburg 2009. 160 S, 24,80 Euro.