Die Umsetzung des Olweus-Schulprogramms soll Amokläufe von Schülern in Zukunft verhindern. Kann dem Phänomen Amok so beigekommen werden?
Der Sonderausschuss zur Untersuchung des Amoklaufs von Winnenden hat im März 2009 als wesentliche Maßnahme die Implementierung des Anti-Mobbing-Programms nach Dan Olweus empfohlen. Welcher Nutzen lässt sich daraus für die Gewaltprophylaxe im Allgemeinen und zur Verhinderung von Amokläufen im Speziellen erwarten?
Gewaltprophylaxe an Schulen durch das Olweus-Programm
Aus Sicht der allgemeinen Prophylaxe gewalttätigen Verhaltens und psychischer Gewaltanwendung an Schulen kann das Olweus-Programm einigen Nutzen erwarten lassen. Hervorzuheben ist der Faktor der Bewusstseinsentwicklung und Sensibilisierung gegenüber der, nicht selten sich subtil äußernden, Gewaltproblematik. Das Wegschauen und sukzessive Verschieben von Toleranzgrenzen kann durch eine bewusste und in alle Ebenen des Schullebens integrierte Auseinandersetzung verhindert werden. Die Transparenz der Maßnahmen und die quasi demokratische Erarbeitung eines Regelkanons kann das Identifikationspotential auf Seiten der Schüler erhöhen.
Als wesentliche Voraussetzung zu einer erfolgreichen Voraussetzung dürfte freilich ein engagiertes Kollegium und eine motivierte Elternschaft gelten. Soll das Programm zu einer gelingenden Sozialisation der Schüler über den Schulalltag hinaus beitragen, so ist ein echter Konsens hinsichtlich der gemeinsamen Ziele der Gruppe der Schüler unerlässlich. Eine Implementierung des Programms pro forma und ohne tatsächliche Einsicht der Schülerschaft könnte im Gegenteil eine Individualisierung der Delinquenzproblematik zur Folge haben. Dies könnte eine verstärkte Segregation in den Schulbiographien und die Stigmatisierung Einzelner verursachen.
Grenzen des Machbaren in der Vermeidung von Gewaltexzessen
Als Patentlösung für die gesellschaftliche Gewaltproblematik und insbesondere für das extreme Phänomen „Amok“ kann das Olweus-Schulprogramm keinesfalls angesehen werden. Es darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass es sich bei institutionalisierten Verfahren um für das Individuum zwiespältige Phänomene handelt: Sie vermitteln Sicherheit und Orientierung, können aber auch als Zwang und überregulierender Eingriff aufgefasst werden, wodurch sich eine Disposition zu einem marginalisierten Selbstgefühl entwickeln kann. Es bleibt fraglich, ob das Anti-Mobbing-Programm für ältere Schülerjahrgänge ähnlich positive Ergebnisse hervorzubringen vermag.
Betrachtet man die Gewaltproblematik als gesamtgesellschaftliches Problem, ist man bereit, eine Debatte über die Ursachen des Phänomens „Amok“ zu führen, so kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass die Maßnahmen zu einer intensivierten Kontrolle vermeintlich besonders anfälliger gesellschaftlicher Gruppen ihr Ziel einer qualitativen Minimierung von Gewaltexzessen verfehlen werden. Die Zunahme gesellschaftlicher Kontrolle und Überwachung ungewollten Verhaltens, der reaktionäre Blick auf nicht angepasstes Verhalten, die damit einhergehende Tendenz zu einer Sterilität des Sozialen und die uneingestandene Doppelbödigkeit massenmedialer Kommunikation stellen selbst einen Zusammenhang gesellschaftlicher Gewalt dar, der nicht hinterfragt wird.
Amok als extremes gesellschaftliches Phänomen
Das Phänomen „Amok“ lebt in seiner Extremität gerade nicht aus der Ablehnung des kollektiven Konsenses, sondern aus dem Druck sich diesem beugen zu müssen. Die übertherapierte Gesellschaft formuliert gegenüber dem Einzelnen einen doppelten Schuldzusammenhang: Zum Einen wird reales oder befürchtetes Scheitern als biografisches Erlebnis in der Verantwortung individualisiert, zum Anderen enthebt sich die Gesellschaft ihres existentiellen Gewaltzusammenhangs, was das Gefühl der Isolation und Ausgeliefertsein des Einzelnen der Sozietät gegenüber verstärkt. Die Folgen liegen in einer tiefen Marginalisierung im Selbsterleben, die sich in einer radikalen Aktion aufzuheben trachtet. In der Tat aktualisiert sich der verdrängte Gewaltzusammenhang eruptiv und katastrophisch.
Noch scheint die Debatte über das Geschehene in Deutschland von Abwehrreflexen geprägt. Doch der Rückschluss auf die untergründige Semantik derart extremer Phänomene kann zu einer veränderten Bewußtseinshaltung führen, die den Übergang zu einer kritischen Neubesinnung hinsichtlich der Welt, in der wir leben möchten, führen. Insbesondere die Arbeit des französischen Philosophen Jean Baudrillard muss als aufschlussreich bezeichnet werden. In seinem Essay „Transparenz des Bösen“ finden sich wichtige Hinweise für ein Verständnis des scheinbar Unerklärlichen.
Zu einer Phänomenologie von „Amok“
Eine Phänomenologie von „Amok“ als relevantes semantisches Ereignis würde dessen untergründige Doppelstruktur offenlegen, deren gesellschaftliche Tabuisierung wesentlich zum Unverständnis des extremen Phänomens beiträgt. In den Begriffen rationaler Moral und des Positivismus lässt sich weder ein Tatmotiv erklären noch eine logische Beziehung des Täters zu den Opfern herstellen. Das Phänomen „Amok“ wird in seinem semantischen Gehalt durch zwei Faktoren bestimmt: 1. Die Inszenierung von Gewalt als totalem Prinzip, dass sich subjektiver Kontrolle entzieht. 2. Das Erleben persönlicher Marginalität wird in der Dramaturgie rekollektiviert und folgt dabei der Logik von Täter und Opfer in der Mimesis des gesellschaftlichen Zugriffs auf das Individuum.
Aus dem Geist des Positivismus, der die Negativität des gegenwärtigen Status Quo verleugnet und den gesellschaftlichen Zusammenhang als unabänderliches Fatum erscheinen lässt, wird keine Lösung des Phänomens „Amok“ zu erwarten sein. Einzelmaßnahmen, die defensiv auf eine Absicherung gesellschaftlicher Teilbereiche abzielen, werden extremen Gewaltexzessen nicht Herr werden können, da sie Gewalt als Existential verleugnen und nicht auf eine Arbeit an den Ursachen abzielen. An die Katastrophe muss eine ernsthafte Debatte anschließen, die ohne falsche Scheu die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs thematisiert und Sozietät als widersprüchlich zu erstreitende begreift. Die Lebensbedingungen und Erlebnisstrukturen postmoderner Subjektivität harren einer kritischen Debatte.
Quellenangabe: Jean Baudrillard. Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene. Aus dem Französischen von Michaela Ott. Merve Verlag, Berlin 1992. 200 S., 12,50 EUR. ISBN 3-88396-098-5