Der Sonderausschuss zur Untersuchung des Amoklaufs empfiehlt die Umsetzung eines Anti-Mobbing-Programms an Schulen. Was sieht das Olweus-Programm vor?
Der Sonderausschuss zur Untersuchung des Amoklaufs von Winnenden empfiehlt in seinem am 9. März 2010 vorgestellten Sonderbericht ein Schulprogramm zur Gewaltprophylaxe. Mit besonderer Priorität sei die flächendeckende Implementierung des Anti-Mobbing-Programms des schwedischen Psychologen Dan Olweus zu verfolgen. „Von zentraler Bedeutung ist für den Sonderausschuss die Einführung eines Gewaltpräventionsprogramms nach dem norwegischen (sic!) Psychologen Dan Olweus. Baden-Württemberg setzt damit auf das weltweit am besten evaluierte Anti-Gewalt-Programm, das nachhaltig und flächendeckend seine Wirkung entfalten soll“, betonte der Ausschussvorsitzende Palm.
Das Schulprogramm nach Dan Olweus
Das Olweus-Schulprogramm und das in den 1990er Jahren in Anlehnung an dessen Konzept in Schleswig-Holstein durchgeführte Gewaltinterventionsprogramm zeigten erfreuliche Resultate: Nach den Evaluierungen des Wissenschaftlers war das Gewaltproblem an den Schulen um bis zu 50 Prozent rückläufig. Dieser Rückgang betrifft sowohl die mittelbare als auch die unmittelbare Gewalt. Eine “Verlagerung“ des Gewaltproblems konnte ausgeschlossen werden; man hatte keine Zunahme der Gewalt außerhalb der Schule, etwa auf dem Schulweg, feststellen können. Allgemein antisoziales Verhalten ging ebenso zurück. Es wurden weniger Diebstähle und weniger Vandalismus beobachtet. Diese positiven Effekte des Programms ließen sich im deutschen Pilotprojekt in Schleswig-Holstein insbesondere für die Grundschulen und in der Sekundarstufe I nachweisen.
Der Schwede Dan Åke Olweus (* 18. April 1931) lehrt als Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Bergen (UiB) in Norwegen. Olweus gilt als Pionier auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Untersuchung der Mobbing- und Gewaltproblematik an Schulen. Seit 1970 widmet er sich dem Problemfeld als Forschungsgegenstand. Die Methoden-Entwicklung zur Gewaltprävention treibt Olweus seit den 1980er Jahren voran.
Schwierige Einsicht: Gewalt als Problem für die Schule
Ziel des schulumfassenden Programms zur Gewaltprävention ist in erster Linie ein deutlicher Rückgang mittelbarer und unmittelbarer Gewaltakte unter den Schülern. Zu diesem Zweck sollen strukturelle Bedingungen geschaffen werden, die den Schülern ein besseres Auskommen miteinander ermöglichen und soziale Kompetenzen stärken. Die erforderlichen Maßnahmen betreffen die institutionelle Ebene der Schule, die Erarbeitung eines Verhaltenskodexes auf Klassenebene und auf persönlicher Ebene Einzelgespräche mit gewaltausübenden Schülern unter Einbeziehung der Eltern.
Voraussetzung des Programms ist die Entwicklung eines Problembewusstseins auf Seiten der Lehrer und Eltern, verbunden mit dem Willen, dem Missstand mit Arbeit entgegenzutreten. Grundlage der weiteren Maßnahmen bildet eine empirische Erhebung des Ist-Zustands. Zu diesem Zweck werden die Schüler nach ihren Gewalt- und Mobbingerfahrungen befragt. Die Ergebnisse der Befragung bilden die Grundlage der Bestandsaufnahme und Planung der Vorgehensweise an einem „Pädagogischer Tag“, an welchem ein langfristiger Handlungsplan erarbeitet wird. Dieser Plan, der Präventions- und Interventionsmaßnahmen festlegt, sollte durch eine Schulkonferenz begleitet und bestätigt werden.
Maßnahmen auf Schulebene
Nach der Problemerhebung und der Besprechung des Olweus-Programms in einer Schulkonferenz müssen weitergehende Maßnahmen dauerhaft umgesetzt werden, um die Präventionsabsichten in tragfähige Strukturen überführen zu können. Zunächst ist eine quantitative und qualitative Verbesserung der Aufsicht durch das Lehrpersonal zu erreichen. Ein günstigerer Schlüssel und in Interventionstrainings geschultes Eingreifen sollen potentiellen Opfern unter den Schülern Sicherheit vermitteln. Über frühzeitige Intervention sollen Mittäterschaften verhindert und ein Klima der Intoleranz gegenüber physischer und psychischer Gewalt etabliert werden.
Zentral ist zudem die Bedeutung der Zusammenarbeit von Lehrern und Eltern, auch um ein Verschieben gewalttätiger Impulse zu verhindern. Empfohlen wird die Einrichtung eines zentralen Kontakttelefons, an welches sich Eltern im Kontakt mit einem Gewaltpräventionsbeauftragten der Schule wenden können. Ein Elternabend zum Thema „Gewalt“ kann diese Maßnahmen vorstellen und die Teilhabe der Eltern mobilisieren und koordinieren.
Auch die Einrichtung von Lehrergruppen zur Verbesserung des Sozialklimas an der Schule wird von Olweus als wichtige Maßnahme genannt. In diesen Gruppen sollten nach Möglichkeit alle Lehrer mitarbeiten und dabei einen einheitlichen Standpunkt zum Umgang mit gewalttätigen Auseinandersetzungen erarbeiten. Aufgabe dieser Gruppen ist auch die gegenseitige Unterstützung, vor allem die konkrete Hilfe derjenigen Lehrkräfte, die in ihren Klassen oft Gewaltprobleme zu lösen haben. Diese Maßnahmen dienen dem Ziel, die Schule in ihrer Gesamtheit für das Thema zu sensibilisieren, in den Prozess der Prävention einzubinden und Betroffenen solidarische Strukturen anzubieten.
Maßnahmen auf Klassenebene
Den Mittelpunkt des Gewaltpräventionsprogramms auf Klassenebene bildet die gemeinsame Entwicklung von Verhaltensregeln durch Schüler und Lehrer. Als Kern dieses Regelkanons schlägt Olweus vor:
1. Wir werden andere Schüler nicht mobben.
2. Wir werden versuchen, Schülern, die gemobbt werden, zu helfen.
3. Wir werden uns Mühe geben, Schüler einzubeziehen, die leicht ausgegrenzt werden.
Parallel zur Erarbeitung dieser Klassenregeln sollte die Erarbeitung von Konsequenzregeln stattfinden. Konkrete „Strafen“ beziehungsweise Wiedergutmachung für das Nicht-Einhalten der Klassenregeln sollen festgelegt werden. Die in den Klassengesprächen erarbeiteten Konsequenzregelnsollen sollen angewendet werden, wenn es darum geht, einen Schüler für aggressives, regelbrechendes Verhalten zu bestrafen. Die jeweilige Strafe sollte dem Alter, dem Geschlecht und der Persönlichkeit des Schülers angepasst sein. Unter Umständen ist es auch notwendig, die Eltern vom Verhalten ihres Kindes in Kenntnis zu setzen.
Demokratische Formen und Solidarität
Durch die Transparenz des Vorgehens soll im Idealfall eine „Sozialisierung“ der Gewalt- und Ausgrenzungsproblematik erreicht werden. Wenn das Regularium Ergebnis eines Verständigungsprozesses von Schülern, Lehrern und Eltern ist, kann im Vorfeld delinquentem Verhalten die motivationale Grundlage entzogen werden. In wöchentlichen Klassengesprächen wird die Einhaltung der Klassenregeln ausgewertet. Auf diese Weise sollen langfristig Selbstregulierungsmechanismen unter den Schülern etabliert werden, die die Gruppensolidarität stärken und Delinquenz als Problem kollektivieren.
Kooperative Lernformen können das Bewusstsein gegenseitiger positiver Abhängigkeit verstärken. Das Kollektiv kann als Ort von Toleranz, Zusammenhalt und gegenseitiger Hilfe der Isolation und Gewaltbereitschaft Einzelner entgegenstehen.
Maßnahmen auf persönlicher Ebene
Zu den wichtigsten Aktivitäten auf der persönlichen Ebene zählen die Einzelgespräche mit den Betroffenen: ernsthafte Gespräche mit den Gewalttätern, mit den Opfern und mit den Eltern beider Parteien. In der Verbalisierung der Vorfälle sollen Ursachen für das gewalttätige Verhalten ergründet werden und von allen Parteien gemeinsam ein Plan zur Vorgehensweise entwickelt werden. Den Gesprächen soll der Gestus absoluter Nicht-Tolerierung von Gewalt an der Schule zu Grunde liegen.
Strafmaßnahmen sollen ausgesprochen und begründet werden. Gegenüber den Opfern der Attacken der Mitschüler soll das Vertrauen in die Schule und die sie tragende Gemeinschaft von Schülern, Lehrern und Eltern wiedergewonnen werden. Im Falle wiederholt gewalttätigen Verhaltens schlägt Olweus einen Klassen- oder Schulwechsel des Täters vor.