Der Berliner Kulturtheoretiker Martin Burckhardt untersucht in „68. Die Geschichte einer Kulturrevolution“ die Umwälzungs- und Verwerfungsprozesse der 1960er Jahre unter dem Vorzeichen derer kultureller Bedeutung für unser Denken.
Fokussiert wird weniger die mittlerweile kanonische polithistorische Dimension dieser bewegten Jahre, sondern deren semantischer Tiefengehalt, der sich in der Ausbildung neuer Informations- und Verständnisstrukturen in unserem Denken niedergeschlagen hat. Burckhardt nimmt als Philosoph nicht dasjeniege in den Blick, was bereits verstanden wäre, sondern untersucht die Geschichte auf Faktoren, die unser Denken – auch über die Geschichte selbst – organisieren und unsere Wahrnehmungsmuster präformieren. Eine sehr aufschlussreiche Lektüre, denn Burckhardt zeigt überzeugend auf, dass die Geschichte der 68er als Kulturrevolution weder abgeschlossen ist, noch in deren Tiefengehalt erfasst.
Das Ende der Repräsentation
Eingangs formuliert Burckhardt seine These in Anknüpfung an Foucaults Begriff des Epochenrisses von der gänzlich neuen „Logik der Simulation“, in deren System sich die kulturellen und inforationellen Phänomene des ausgehenden 20. und 21. Jahrhunderts darstellen. In Teilaspekten ist der Wandel bspw. der digitalen Kommunikation oder derjeniege des Wirtschaftssystems diskutiert worden – doch Burckhardt setzt seine Betrachtung tiefer an und beschreibt auf den ersten Blick heterogene Gegenstände unter den Vorzeichen eines neuen semiotischen Zeichensystems. Die Ursprünge des Wandels auf allen Ebenen gruppieren sich mehr oder minder konkret um das Symboljahr 1968.
Untersucht wird das neue Begriffssystem der 68er Revolte, welches eine Ökonomie des individuellen Lustprinzips etabliert, die über blanken Hedonismus in der Zuschreibung emanzipatorischer Sinngehalte hinausweist und an verdrängte Traditionslinien des Anarchismus anknüpft. In der Artikulation des Protestes zeigen sich Sinn-Transponierungen, die sich der herrschenden Begriffslogik entziehen.
Die Definition des Hirntodes und die medizinische Entwicklung prägen dem Bild des Menschen die Züge eines technischen Hybriden ein, der Körper wird vergesellschaftet. Die Entwicklung des Internets und der substantiellen Trennung von Hard- und Software etablieren die Möglichkeit einer kollektiven Organisation von Sinn und Fortschritt, die die intendierten Kontrolleffekte von Zentralorganen unterwandern. Die Logik des transnationalen Free Floatings des Geldes führt zum Sturz der Golddeckung des Dollars und legt den fiktionalen Gehalt von Währung und Wert offen.
All diese Phänomene beschreibt Burckhardt kenntnis- und ankedotenreich in sieben Hauptkapiteln, die im Vortrag zwischen pointierter Geschichtserzählung und poststrukturalistischer Essayistik changieren. Die Lektüre ist folgerichtig und von bestechender Klarheit in der Argumentation, nur gelegentlich macht sich eine gewisse Neigung zur kurzschließenden Darstellung negativ bemerkbar. Es gelingt Martin Burckhardt in diesem Band überzeugend darzulegen, dass die Logik der Repräsentation, die sich auf alle Felder des kulturellen Lebens – Politik, Medizin, Informationstechnologie und vor allem auf die Vergegenständlichung von Macht – bezog, einer Logik der Simulation gewichen ist, die zu einer zumindest virtuell vollständigen (Ver-)Objektivierung der Welt führt.
Die neue Matrix
Die digitale Matrix überführt die Lebens- und Verstehensverhältnisse der postmodernen Gesellschaft in ein fluides Stadium. Diese Dekonstruktion von Individualität wird begleitet von einer grenzenlosen Multiplikation im Kosmos der Zeichen. In der Emanation des Bezeichnenden aus der Maschine wird das Bezeichnete nivelliert. Ähnliche Beobachtungen, die eine zentralperspektivische Sicht der Dinge als unzureichend erscheinen lassen, lassen sich im Übrigen auch bspw. auf den Gebieten der Biologie und der Astrophysik machen. Die neue Matrix organisiert unsere Wahrnehmung der kulturellen Prozesse der Gegenwart, ohne ihrerseits ausreichend in den Blick genommen, geschweige gedanklich adäquat erschlossen worden zu sein. Martin Burckhardt hat mit seiner Geschichte einer Kulturrevolution einen wertvollen und diskursübergreifenden Beitrag zu den philosophischen Problemstellungen unserer Zeit geliefert.
Bibliographische Angaben:
Burckhardt, Martin: 68. Die Geschichte einer Kulturrevolution.
Semele, 2009, 226 S.
ISBN 978-3-938869-15-4, 9,95€.