Arthur Schopenhauer (1788-1860) ist der bedeutendste deutsche Vertreter des philosophischen Pessimismus. Der Philosoph stand zeitlebens mit der akademischen Universitätsphilosophie seiner Zeit auf Kriegsfuß und polemisierte immer wieder mit kaum zu leugnender Freude an geistiger Opposition gegen seine prominenten Kollegen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
Vor seiner heutigen Geltung mag der versagte Ruhm zu Lebzeiten des Philosophen, der übrigens in Europa den Pudel als Haushund populär machte, überraschen. Sein subjektiver Idealismus und metaphysischer Voluntarismus stellte jedoch einen großen Widerspruch zur Universitätslehre dar; seine ausgeprägte Streitlust beförderte den Erwerb institutionalisierter Meriten zusätzlich nicht. Erst gegen Ende seines Lebens erlebte der Frankfurter eine größere Verbreitung seiner Schriften, die in aufwendigen und erweiterten Neuauflagen erschienen, und eine Würdigung seiner Philosophie.
Aus diesen letzten Lebensjahren stammen die Notizbücher, die der greise Denker im April 1852 begann und bis wenige Tage vor seinem Ableben fortführte. 2010 sind diese mit Senilia überschriebenen handschriftlichen Aufzeichnungen im C.H. Beck Verlag transkibiert und mit großem editorischem Apparat ausgestattet erschienen. Der während der Arbeiten an dieser Edition verunglückte italienische Philosoph Franco Volpi und dessen deutscher Kollege Ernst Ziegler haben mit dieser Herausgabe der Wissenschaft einen großen Dienst erwiesen. In schwierigster Kleinarbeit haben sie die verschnörkelte und zunehmend flüchtige Handschrift Schopenhauers entziffert und mit höchster editorischer Aufrichtigkeit transkribiert. Ein präziser und handwerklich hervorragender editorischer Apparat machen diese Ausgabe zu einem kostbaren Gut der Wissenschaft und vollenden die Gesamtausgabe des philosophischen Werkes Schopenhauers.
Den Leser erwarten Zitate und Denkreflexionen, wissenschaftliche Überlegungen und praktische Einlassungen zur Lebenskunst ebenso, wie Vorarbeiten zu Neuausgaben philosophischer Werke. Dass diese häufig und auch notwendig in kleinen und vage zu kontextualiserenden Splittern bestehen, steigert die Lektüre zu einem geistigen Lesevergnügen, welche die Herstellung unzähliger Bezüge zum Werk des Philosophen ebenso zulässt, wie eine freie Reflexion über die gelesenen Sentenzen.
Der erste Teil enthält die Vorarbeiten zu einer praktischen Lehre der Kunst des Lebens und Alterns, die die spät im Leben des Philosophen eingeleitete Hinwendung zur Lebenskunstliteratur und praktischen Ethik vertieft und erweitert. Im zweiten Teil überwiegen Vorarbeiten zu Neuausgaben seiner Werke und vor allem zu einer kritisch-polemischen Auseinandersetzung mit dem schriftlichen Sprachgebrauch seiner Zeit. Besonders in den Analysen der vermeintlichen Spachverhunzung durch den Journalismus und den diese hervorrufenden Schimpftiraden des Denkers liegen einige auch humoristisch köstliche Perlen verborgen. Der Leser schaut gleichsam dem wütenden Philosophen, der sehr modern die Sprache als Surrogat des Denkens und Philosophierens reflektiert, über die Schulter, wie sich dieser seine Gegner immer wieder neu zurecht legt, an der Pointierung und dem rhetorischen Schliff seiner Invektiven feilt und sich anscheinend auch emotional stets neu zu ereifern weiß. Der Sprachverhunzung durch das Lukrieren, das Auslassen, von Buchstaben und der grammatikalisch-syntaktischen Abkehr des Deutschen vom Lateinischen gilt die ganze Wut.
Der Leser wird angesichts solcher Notizen wie „Statt ‚verdorben‚ ‚verderbt‚! bloß aus Buchstabenzählerei. Schreibt doch auch gesterbt statt gestorben!“ oder schriftlicher Empörungen wie „Und dann das stolze Selbstbewußtseyn, mit welchem Herr Schmierax nach jeder neuen Wortverstümmelung um sich sieht […] drückt dem ganzen Treiben den Stämpel der Gemeinheit auf.“ ein Schmunzeln kaum unterdrücken können. Bedenkt man angesichts der Sprachtendenzen zu Schopenhauers Zeiten dessen Kulturpessimismus, so kann man im Sinne des Philosophen froh sein, dass er den heutigen auf die Bildung von Etiketten abzielenden Jargon („Wutbürger“), die Tendenz zum Verschwinden des Genitiv und schließlich zur Synkopierung sämtlicher Artikel in der Jugendsprache bildungsferner Schichten nicht mehr erleben musste.
Senilia. Gedanken im Alter aus dem C.H. Beck Verlag ist jedem philosophisch interessierten Leser zu empfehlen.
Bibliographische Angaben:
Senilia. Gedanken im Alter.
Herausgegeben von Franco Volpi (+) und Ernst Ziegler.
C.H. Beck Verlag, 2010, 374 S.: mit 9 Abbildungen. In Leinen.
ISBN 978-3-406-59645-2, 29,95€.